Jetzt brechen endlich Schlaraffenlandzeiten an: Der DGB erklärt, dass höhere Löhne keine Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und seine Exportchancen darstellten und deshalb ein höheres Lohnniveau hierzulande unproblematisch sei. Na, dann kann es ja an den gebratenen Tauben nicht mehr fehlen, die uns in den Mund fliegen, oder? Der DGB stützt seine Meinung auf die wissenschaftliche Arbeit einer Mitarbeiterin der Deutschen Bundesbank von 2008, die belegen soll, dass ein Prozent höhere Preise im Inland gegenüber dem Ausland nur ¼ Prozent weniger Exportnachfrage bedeute.
Welche Preissteigerungsrate ist wirtschaftspolitisch relevant?
Lag die deutsche Preissteigerungsrate in den letzten Jahren nun unter 1%, zwischen 1% und 2% oder über 2%? Immer wieder wird uns die Frage gestellt, wieso wir die Preisentwicklung in Deutschland als zu gering bezeichnen und ihren jahresdurchschnittlichen Wert für die letzten 13 Jahre (seit Einführung des Euro) mit 0,9% angeben. Denn die Verbraucherpreise sind in diesem Zeitraum laut Angaben des Statistischen Bundesamtes um durchschnittlich 1,6% pro Jahr gestiegen. Haben wir uns etwa in den Daten geirrt? Nein, es handelt sich um zwei verschiedene Preissteigerungsraten, von denen hier die Rede ist. Um 0,9% ist der Preisindex des Bruttoinlandsprodukts (BIP-Deflator) gestiegen, ebenfalls ausweislich der amtlichen Statistik.
Was man in Augsburg über Griechenland zu hören bekommt
Professor Hans-Werner Sinn erklärte auf dem 39. Augsburger Konjunkturgespräch der IHK vergangene Woche, dass die Euro-Krise längst nicht gelöst sei. „Das Kernproblem sei, sagte Sinn, dass die Länder in Südeuropa nicht wettbewerbsfähig sind“ (so zitiert in der Augsburger Allgemeinen). Wo er recht hat, hat er recht. Doch jetzt kommt’s: „Griechenland sei noch immer 61 Prozent teurer als die Türkei, Portugal 43 Prozent.“
Der Freihandel als Retter oder warum die Phantasielosigkeit der Neoliberalen wirtschaftliche Entwicklung verhindert
Geradezu enthusiastisch wurde in Europa das Angebot von Präsident Obama aufgenommen, konkret über eine Freihandelszone zwischen den USA und Europa zu reden. Sofort war wieder von vielen Arbeitsplätzen die Rede, die dabei geschaffen werden könnten und von den Wachstumsmöglichkeiten, die sich dadurch böten.
„Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich“ – Warum werden immer wieder die gleichen Fehler gemacht?
Vor einigen Tagen machte ein Aufruf die Runde, in dem eine neue und verschärfte Dimension von Arbeitszeitverkürzung (AZV) mit vollem Lohnausgleich (und sogar Personenausgleich) gefordert wurde. Nachdem ich mich gegenüber Spiegel online ablehnend dazu geäußert habe, haben mich viele gebeten, ich solle doch noch einmal darlegen, wie sich meine reservierte Haltung gegenüber AZV als Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erklärt.
Prognosen und andere Irrtümer
Muss man die Zukunft systematisch manipulieren, um ein guter Ökonom zu sein? Die Jahreswende ist die Zeit, in der Ausblicke auf das vor uns liegende Jahr gegeben und gute Vorsätze gefasst werden, auf dass alles besser werde. Doch mit den guten Vorsätzen ist das so eine Sache. Wer etwas besser machen will, muss die in der Vergangenheit gemachten Fehler erst einmal erkennen, bevor er gegensteuern kann, von der Mühsal der Umsetzung vieler Vorsätze ganz abgesehen. Viel leichter ist das Leben für die, die sich die Fehlentwicklungen in der Vergangenheit gar nicht so genau anschauen und folglich auch keinen Anlass sehen, etwas zu ändern.
Die griechische Krise hat deutsche Wurzeln
Statt die griechischen Haushaltsdefizite zu geißeln, sollte sich die EU besser über das Lohdumping der Deutschen aufregen
Griechenland steht unter Beschuss: Die Zinsen für seine Euro-Staatsanleihen steigen weit über den deutschen Wert, und die Ratingagenturen drohen mit einer Herabstufung der Bonität. Wenn in Deutschland die Rede auf diese jüngste griechische Tragödie kommt, werden fast alle Beobachter selbstgefällig. Man habe ja gewusst, dass es mit einem solchen Land in der Europäischen Währungsunion (EWU) nicht gut gehen könne.
Diese Haltung spiegelt ein Denkmuster wider, das man auf internationalem Parkett immer wieder antrifft, wenn Länder in Schwierigkeiten geraten: Wer Hilfe benötigt, muss etwas falsch gemacht haben. Das steht in seltsamem Gegensatz zu unseren zwischenmenschlichen Beziehungen: Wer einen schwer verletzten Menschen auf der Straße findet, schließt ja auch nicht automatisch auf dessen eigene Schuld, sondern hilft erst mal und fragt ihn vielleicht: „Wer hat Ihnen das angetan?“
Der Verletzte auf der Straße kann Opfer oder Täter sein. Es gibt ein Regelwerk, anhand dessen die Schuldfrage geklärt werden kann. Im Dschungel und leider auch in internationalen Beziehungen ist das anders. Wo es kein Gesetz gibt, das Gewalt gegen andere verbietet und mangelnde Sorgfaltspflicht bestraft, ist es von vornherein müßig, nach dem Schuldigen zu fragen.
Keine Regeln für die Schuldfrage
Griechenland ist zwar Mitglied in einer von Regeln geleiteten Gemeinschaft, der EWU. Nur leider sind die bestehenden Regeln, die Maastricht-Kriterien, nicht geeignet, Schuldfragen zu klären. Es gibt eine große Diskussion über Verfehlungen beim Haushaltsdefizit. Die wichtigere Frage aber, wie dieses Haushaltsdefizit entstanden ist und wessen Politik dazu beigetragen hat, wird ignoriert. Man weiß zwar, dass Staatsdefizite mit Wirtschaftswachstum zusammenhängen, dass aber Wachstum keine rein nationale Angelegenheit ist, sondern in einer arbeitsteiligen Welt von internationalen Zusammenhängen mitbestimmt wird, bleibt außen vor.
Stattdessen wird neben dem Haushaltsdefizit das allgemeine griechische Über-die-Verhältnisse-Leben beklagt, das sich in einem dramatischen Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit niederschlage. So schreibt die Financial Times am 3. Dezember 2009, in Griechenland seien die Lohnstückkosten übermäßig stark gestiegen, während sie in Deutschland seit Beginn der EWU fast konstant geblieben seien, was die griechische Wirtschaft schon lange krank aussehen ließ.
Das ist richtig: Nach Daten der EU-Kommission sind die Lohnstückkosten, die wichtigste Determinante der Wettbewerbsfähigkeit in einer Währungsunion, in Griechenland von 1999 bis 2009 um 26 Prozent gestiegen, in Deutschland aber nur um gut acht Prozent. Was aber ist damit gesagt? Entsprechen den Zielvorstellungen der EWU eher konstante Lohnstückkosten oder steigende? Darauf gibt es eine klare Antwort. Die EWU hat nämlich ein Inflationsziel von jährlich leicht unter zwei Prozent. Zu einem solchen Inflationsziel passen zweifellos Lohnstückkostenzuwächse von leicht unter zwei Prozent, sagen wir 1,9 Prozent. Kumuliert man die über zehn Jahre, kommt man auf knapp 21 Prozent Zuwachs.
21 Prozent sind also die Norm, an die sich alle hätten halten sollen. Griechenland landet bei 26, Deutschland bei acht; die EWU ohne Deutschland erreicht fast 27 Prozent. Wer hat stärker gegen die Regeln des Vertrags verstoßen, derjenige, der fünf Prozentpunkte über seinen Verhältnissen gelebt hat, oder der, der 13 Prozentpunkte unter seinen Verhältnissen gelebt hat? Und wie viel Schaden hat der größere Sünder dem kleineren zugefügt?
Wie kann man in Brüssel zulassen, dass ein Mitgliedsstaat in der internationalen Presse und bei den Ratingagenturen schlechtgemacht wird, während ein anderer, der weit mehr gegen gemeinsame Regeln verstoßen hat, gefeiert wird? Würden etwa feststehende Ideologien infrage gestellt, wenn man Deutschland tadelte, Griechenland aber lobte? Wenn man endlich offen anprangerte, dass ein Land mit Lohndumping andere Länder ungerechtfertigt in Schwierigkeiten bringt? Wer solche Fragen nicht bald beantwortet, wird erleben, dass ihm die europäische Einigung um die Ohren fliegt.
HEINER FLASSBECK ist Chefökonom der Uno-Handelsorganisation Unctad in Genf
FRIEDERIKE SPIECKER ist Ökonomin und Wirtschaftspublizistin.
Zuerst veröffentlicht in der Financial Times Deutschland, 11. Dezember 2009, S. 26
Die Irrlehre vom Lohnverzicht
Globalisierungsangst und Neoliberalismus
Die größte Bedrohung unserer Gesellschaft geht nach wie vor von der immensen Arbeitslosigkeit aus. Kein Wunder, dass sich nach den vielen uneingelösten Wahlversprechen und der Unzahl erfolgloser Reformen der vergangenen sieben Jahre ein Machtwechsel anzubahnen scheint. Doch was kann er den Wählerinnen und Wählern, und unter ihnen insbesondere den Arbeitslosen, bringen?
Ein Blick in die Wahlprogramme der großen Parteien lehrt, dass sich die Analysen der wirtschaftlichen Misere kaum unterscheiden. Alle verfolgen das Ziel, den bundesdeutschen Arbeitsmarkt im internationalen Wettbewerb irgendwie konkurrenzfähiger zu machen. Übereinstimmend wird diagnostiziert, dass die Bundesrepublik ein massives Standortproblem habe, ausgelöst von zu hohen Löhnen, Lohnnebenkosten und Sozialleistungen. Auch die Therapieansätze gleichen sich: Senkung der Lohnnebenkosten, der Unternehmensteuern, der sozialen Leistungen oder gleich Umbau des gesamten Steuer- und Sozialabgabensystems.
Fortsetzung des Artikels hier als PDF-Datei.
Die Niederlande – ein Vorbild für Deutschland?
Erschienen in Wirtschaftsdienst, Mai 2002
Die Diskussion um die deutsche Lohnpolitik schlägt europäische Wellen. Der Chefvolkswirt der EZB, Otmar Issing, gefragt, ob die Löhne in Deutschland nicht dem französischen Bei spiel folgen und etwas stärker steigen sollten, um mehr Binnennachfrage zu entfalten, nennt die hinter dieser Vorstellung stehende Idee „absurd“. Er verweist wie viele andere vor ihm auf die Niederlande, die heute die Früchte einer Lohnzurückhaltung in Form steigender Beschäftigung ernteten. Diese Legende ist zäh. Über Jahre ist in Deutschland der moderne Wirtschaftspolitiker nicht müde geworden, das Nachbarland als Vorbild für erfolgreiches Gürtel-enger-Schnallen und eine grundlegende Reform des Wohlfahrtsstaates zu preisen.