Berechtigte Kritik

Der unten angefügte Beitrag „Globalisierung à la carte“ von Heiner Flassbeck und mir ist am 20. Januar im „Freitag“ erschienen. Die den aufstrebenden Ländern seit Jahrzehnten vom Westen diktierten Spielregeln der Globalisierung sollen verändert werden – aber nicht zugunsten der bislang weitgehend übervorteilten ärmeren Staaten, sondern in erster Linie zugunsten der reichen Industrieländer. Wie massiv gerade in Europa an diesem Thema gearbeitet wird, lässt sich exemplarisch an einem Interview zeigen, das die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen dem Deutschlandfunk am 22. Januar gegeben hat.

Darin beschreibt Ursula von der Leyen, befragt zum Handelsstreit mit den USA in Hinblick auf den Inflation Reduction Act, welches wirtschaftspolitische Ziel die EU-Kommission verfolgt: die Transformation hin zu einer sauberen, nachhaltigen, modernen Kreislaufwirtschaft zur Umsetzung des europäischen Green Deal. Das klingt vernünftig, ist aber nur das grüne Mäntelchen, das eine knallharte Interessenpolitik verbrämen oder immerhin rechtfertigen soll. Wörtlich sagt die Präsidentin:

„Wir sind Weltmarktführer [bei den sauberen Technologien]. Wir sind absolute Pioniere. Unsere Unternehmen sind wettbewerbsfähig. …. Die ganze Welt wird in einigen Jahren die Erzeugnisse dieser Unternehmen nachfragen. Das heißt, wenn es uns gelingt, diese Unternehmen jetzt hier zu halten und diesen Sektor weiter aufzubauen, bleiben wir Weltmarktführer. Das ist das Ziel.“

Damit die innovativen Unternehmen des Clean-Tech-Sektors nicht aus Europa abwandern, sollen sie mit Subventionen unterstützt werden, die sich an den Hilfen orientieren, die umgekehrt die USA für ihren grünen Strukturwandel zahlen. Europäischen Staaten, die sich derlei Subventionen auf nationaler Ebene nicht leisten können, will die Kommissionspräsidentin mit EU-Geldern aus einem neuen Fonds unter die Arme greifen.

Mit anderen Worten: Hier wird offen für einen Standortwettbewerb plädiert zwischen dem europäischen Block der Industrieländer und dem amerikanischen (Kanada und Mexiko sind durch die Freihandelszone mit den USA von dem Inflation Reduction Act weniger betroffen als die EU-Länder).

Das für sich allein genommen ist schon ein starkes Stück. Denn dass Europa und namentlich Deutschland die USA in den vergangenen Jahrzehnten in die Rolle des permanenten Netto-Abnehmerlandes, d.h. in eine Defizitposition mit Arbeitsplatzverlusten gedrängt haben, die USA diese Rolle inzwischen satthaben und sie deshalb – ebenfalls unter einem grünen Deckmantel – die Freihandelsregeln über den Umweg von Subventionen zu ändern bemüht sind, darüber verliert die Präsidentin kein Wort.

Wenn es China inzwischen immer mehr gelingt, zunehmende Handelsüberschüsse mit Europa und sogar Deutschland zu generieren, werden seine Industriesubventionen und seine Handelspolitik scharf kritisiert und wird das Land nicht zuletzt aus diesem Grund von führenden europäischen und deutschen Politikern zur Gefahr erklärt. Dass wir umgekehrt den USA seit Langem hohe Handelsdefizite zumuten, wird hingegen offenbar als selbstverständlich und unproblematisch eingestuft.

Was an dieser einseitigen (um nicht zu sagen: scheuklappenmäßigen) Argumentation der EU-Kommissionspräsidentin aber noch viel problematischer ist: Sie geht einfach davon aus, dass „die ganze Welt […] in einigen Jahren die Erzeugnisse dieser [Clean-Tech-]Unternehmen nachfragen [wird]“. Hat sich die Präsidentin jemals gefragt, womit der Rest der Welt Europas großartige grüne Produkte bezahlen soll? Solange Europa Handelsüberschüsse im dreistelligen Milliardenbereich mit dem Rest der Welt pro Jahr erzielt, dürfte es dem Ausland schwerfallen, sich grüne Technologie aus Europa auf Dauer zu leisten.

Und dass außereuropäische Länder derlei Technologie selbst so stark auf- und ausbauen, dass sie dem Handelsdruck aus Europa etwas entgegensetzen und sich aus eigener Kraft mit sauberen Produktionsformen versorgen können, scheint ja aus Sicht der politischen Führung Europas unerwünscht – man will selbst Marktführer bleiben. Und Marktführer heißt immer, dass man die restlichen Marktteilnehmern permanent bedrängt und möglichst aus dem Markt verdrängt. Die dafür notwendigen Handelsbedingungen in einer globalisierten Welt sollen selbstverständlich aufrecht erhalten bleiben.

Dazu passen Subventionszahlungen für Unternehmen in ärmeren europäischen Staaten. Die sollen offenbar geschützt werden – ganz nach dem in der Migrationspolitik verfolgten Muster „Festung Europa“. Solche Subventionen gehen aber eindeutig zu Lasten ärmerer Staaten außerhalb Europas, die sich derlei staatliche, handelsverzerrende Unterstützung ihrer inländischen Produzenten nicht leisten können. Die EU verfolgt mit dieser angekündigten Politik also eine Fortsetzung des handelspolitischen Würgegriffs, in dem sie die ärmeren Länder zu halten wünscht. Was ist dann aber für den Klimaschutz gewonnen – von einer Friedenspolitik und der Bekämpfung sozialen Elends in der Welt ganz abgesehen?

Wie wir wenige Tage vor diesem Interview im Beitrag für den Freitag erklärt haben: Führende westliche Politiker und Politikerinnen wollen den hiesigen Wohlstand mit allen Mitteln verteidigen und ihn zugleich fortschrittlich, nämlich grün aussehen lassen. Dass das dem weltweiten Klimaschutz insgesamt – und das ist die einzige Betrachtungsweise, die dem Klimawandel angemessen ist – nicht helfen, sondern schaden wird, wird ignoriert. Für das verheerende Ergebnis, das diese Art der Politik für zukünftige Generationen hier wie anderswo haben wird, spielt es keine Rolle, ob das aus kurzsichtiger, habgieriger Absicht oder aus ideologisch bedingter Uneinsichtigkeit geschieht.

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Globalisierung à la carte?

Die Globalisierung ist ins Gerede gekommen. Man wolle nicht mehr so abhängig sein, sagen viele. Man könne in Zukunft nicht ohne weiteres auf die Effizienzgewinne der Globalisierung bauen, sagen andere. Man müsse alle wichtigen Produkte auch zu Hause herstellen können, glauben die meisten. Nur bei den Rohstoffen, die man selbst nicht hat, wolle man weiter die Märkte unbedingt offenhalten.

Globalisierung sozusagen à la carte ist das, was sich die Menschen und die Politiker in den Industrieländern wünschen. Nach der totalen Globalisierung, die der globale Norden dem globalen Süden in den 90er Jahren angeboten hatte, nun also die selektive Globalisierung, bei der jeder darauf achtet, nicht abhängig zu werden.

Man fragt sich, nach welchen Regeln die Selektion erfolgen soll. Totale Offenheit, das Prinzip der freien Märkte, war einfach. Selektive Offenheit dagegen ist kompliziert, und es existiert keine Institution, die bereit und in der Lage wäre, die Verhandlungen zu einer solchen Globalisierung zu moderieren. Hinzu kommt die einfache Frage, wer die Partner bei der selektiven Globalisierung sein sollen. Die Entwicklungsländer haben erlebt, dass schon die freien Märkte keineswegs so segensreich für sie waren, wie ihnen von allen Seiten versprochen worden war.

Nehmen wir ein aktuelles Beispiel. Der brasilianische Präsident Lula da Silva hat in seinen beiden ersten Amtszeiten (2003-2011) erfahren müssen, dass ihm die Offenheit der Märkte, die der Norden erwartete, massiv auf die Füße gefallen ist. Bei offenen Kapitalmärkten wurde die brasilianische Währung zum Spielball von Spekulanten und wertete über einen Zeitraum von zehn Jahren so stark auf, dass die brasilianische Industrie im internationalen Standortwettbewerb enorm an Boden verlor. Leistungsbilanzdefizite und Arbeitslosigkeit waren die Folge. Die anschließenden Abwertungswellen kamen zu spät, um Brasilien über den internationalen Handel wieder hinreichend positive Impulse zu vermitteln. Stattdessen kämpfte Brasilien mit hohen Preissteigerungsraten. Dieser Cocktail an katastrophalen makroökonomischen Rahmenbedingungen bereitete schließlich der rechten Regierung unter Bolsonaro den Boden.

Von einem „Währungskrieg“ sprach die zweite Regierung unter Lula da Silva damals. Hätte der deutsche Bundespräsident bei seinem Besuch in Brasilia vor einigen Wochen Lula die Bereitschaft der Bundesregierung mitgebracht, sich im Rahmen der G7 und in Europa für ein monetäres Rahmenwerk einzusetzen, bei dem Spekulation mit Währungen keine Chance mehr hat, der warme Händedruck zur Gratulation für die dritte Amtszeit wäre von einer substanziellen Hilfe begleitet gewesen.

Doch daran ist gar nicht zu denken. Deutschland und Europa sind stolz auf ihre Währungsunion und den Binnenmarkt, verschwenden aber keinen Gedanken an eine vernünftige globale Ordnung der Finanzwelt. Die USA und Großbritannien sind strikt gegen jede Änderung, weil die Wall Street und die Londoner City mit der Spekulation gut verdienen. Hinzu kommt, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) im Auftrag der USA und Europas den Entwicklungsländern aller Kontinente Neoliberalismus verordnet hat, sobald ein Land in Schwierigkeiten geriet. Lateinamerikaner und Afrikaner können viele Lieder davon singen, wie die IWF-Rezepturen regelmäßig scheiterten und zu den größten politischen Verwerfungen führten, die man sich nur vorstellen kann.

Freier Handel war eine Mogelpackung

Folglich ist schon der „freie“ Handel mit offenen, zu Spekulation einladenden Finanzmärkten im Rahmen des IWF-Regimes eine Mogelpackung für die Entwicklungsländer. Wer kann da erwarten, auch nur einen Jota Bereitschaft im Rest der Welt zu finden, sich auf selektiven Warenhandel unter den Bedingungen freier Kapitalmärkte einzulassen, bei dem ausgerechnet die Rohstoffe von Selektion ausgenommen sind?

So einfach wird die Globalisierung á la carte nicht zu haben sein. Gerade Deutschland mit seinem enorm großen Exportsektor und seinen ungerechtfertigten riesigen Leistungsbilanzüberschüssen ist der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Niemand hat mehr zu verlieren, wenn das fragile globale System kollabiert. Wer Änderungen will, muss konstruktive Vorschläge machen, die den Entwicklungsländern weit entgegenkommen, und darf nicht allein auf den eigenen Vorteil bedacht sein.

Was braucht die Welt?

Die Welt braucht 50 Jahre nach dem Ende von Bretton Woods wieder ein globales Wirtschafts- und Währungssystem, das auf der Erkenntnis aufgebaut ist, dass Handel und Finanzen nicht voneinander zu trennen sind. Unternehmen, die im internationalen Handel erfolgreich agieren wollen, müssen sich, nicht anders als auf der nationalen Ebene, absolute Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten erarbeiten. Sie müssen – unter Berücksichtigung der Qualität – billiger sein. Die von den Ökonomen seit Jahrhunderten hochgehaltenen komparativen Kostenvorteile im internationalen Handel sind eine Schimäre.

Was für Unternehmen gilt, gilt jedoch nicht für Länder. Sind viele Unternehmen eines Landes erfolgreich im Sinne einer Zunahme der Produktivität, müssen unter vernünftigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Löhne in dem Land so stark steigen, dass der Produktivitätsvorteil im internationalen Vergleich nicht mehr zugunsten der Unternehmen dieses Landes zu Buche schlägt. Bei höherer Produktivität steigen die Lohnstückkosten dann genau so stark wie in anderen Ländern, die eine geringere Produktivitätszunahme aufweisen.

Steigen die Löhne im Verhältnis zur heimischen Produktivität zwischen Ländern in unterschiedlichem Tempo, ergeben sich Inflationsdifferenzen, die absolute Vorteile für ganze Länder mit sich bringen, nämlich für diejenigen, die die geringsten Inflationsraten aufweisen. Die Inflationsdifferenzen müssen deshalb zwingend durch das Währungssystem ausgeglichen werden.

Die Währungen von Ländern mit niedrigen Inflationsraten müssen aufwerten und umgekehrt. Konstante reale Wechselkurse, also konstante Wettbewerbspositionen von Ländern, sind der Kern der Lösung der Globalisierungsprobleme. Standortwettbewerb von Ländern ist genau das Gegenteil dessen, was die Welt braucht. Die Positionen von Unternehmen können sich auch bei konstanten realen Wechselkursen in der gleichen Weise ändern wie in einem Binnenmarkt, so dass die Vorteile des Wettbewerbs erhalten bleiben, ohne dass ganze Gesellschaften in den Ruin getrieben werden und Auswanderungswellen nach sich ziehen.

Die Welt braucht folglich ein Handelssystem, das von einem Währungssystem ergänzt wird, welches dafür sorgt, dass kein Land auf Dauer absolute Vorteile oder Nachteile hat. Was nichts anderes heißt, dass kein Land dauerhafte Leistungsbilanzdefizite und keines dauerhafte Leistungsbilanzüberschüsse aufweisen darf. Nur so kann man einen Neuanfang schaffen, der auf Integration der Entwicklungsländer und auf Kooperation statt auf Konfrontation setzt.

Rivalität ist grundsätzlich fehl am Platz

Generell muss sich die Einstellung der Industrieländer zu den Entwicklungsländern fundamental ändern. Standortwettbewerb ist ebenso fehl am Platz wie die immer wieder in den internationalen Organisationen hochkommende natürliche Gegnerschaft zwischen dem Norden und dem Süden. Kein Diplomat des Nordens, der nicht davon ausginge, dass die Entwicklungsländer die Gegenspieler seines eigenen Landes sind. Das sind Formen des geistigen Kolonialismus, die dringend abgestellt werden müssen.

Auch die gerade von der deutschen Außenpolitik entdeckte Rivalität mit China passt überhaupt nicht zu einer kooperativen Strategie. Wer China leichtfertig zum Rivalen erklärt und von der regelbasierten Ordnung mit den nördlichen „Wertepartnern“ fabuliert, hat die Chance schon verpasst, mit den Entwicklungsländern auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen.

Das gilt auch und gerade in Sachen Klimakooperation. Die Ergebnisse der jüngsten Weltklimakonferenz in Ägypten belegen, wie wenig der Westen bereit ist, sein Handelsmodell zugunsten der ärmeren Teile der Welt zu verändern und damit sein Herrschaftsintrumentarium zu reduzieren, obwohl das im langfristigen Interesse auch seiner zukünftigen Generationen ist.

Die Einrichtung eines Fonds zum Ausgleich klimabedingter Schäden in Ländern, die besonders von der Klimakrise gefährdet sind, spricht Bände, und zwar über seine unverbindliche Finanzierung und unklare Ausschüttungspolitik hinaus. Was nämlich nicht eingerichtet wurde, ist ein Fonds, um grüne Technologien und entsprechendes Know-how weltweit preiswert zur Verfügung zu stellen und damit potenzielle Schäden von vornherein zu verhindern oder wenigstens zu verringern. Das würde obendrein die Produzenten fossiler Rohstoffe unter den Druck sinkender Nachfrage setzen und die Erschließung und Ausbeutung neuer fossiler Lagerstätten erschweren.

Warum geschieht das nicht? Im Westen träumt man davon, an der Technologieführerschaft in Sachen klimafreundlicher Produktion so gut zu verdienen, dass man den gewohnten Wohlstand aufrechterhalten kann, während man den Strukturwandel hin zu Klimaneutralität bewerkstelligt. Also will man diese Kenntnisse nicht preiswert oder gar kostenlos verbreiten, erwartet aber gleichzeitig, dass sich ärmere Länder verbindlich zu CO2-Reduktionszielen verpflichten. Wieso sollten sich Entwicklungsländer, die bei weitem nicht die Hauptverursacher, sehr wohl aber die Hauptleidtragenden des Klimawandels sind, auf eine solche geradezu kolonialistisch wirkende Zwangsjacke einlassen? Sie müssten nämlich die teure westliche Technologie mit ihrer billigen Arbeitskraft erkaufen, wozu sie in für den Klimaschutz ausreichendem Maße obendrein kaum in der Lage sein dürften.

Eine tatsächlich erfolgreiche, d.h. über Symbolpolitik und moralisch grüne Westen hinausgehende internationale Klimaschutzpolitik wird der Lackmustest für eine in Zukunft fair gestaltete Globalisierung sein. Der Westen ist aufgefordert, seinen warmen Worten zur Unterstützung von Demokratie, Menschenrechten und Klimaschutz Taten folgen zu lassen.

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Ein Gedanke zu „Berechtigte Kritik“

  1. Sehr geehrte Frau Dr. Spiecker, sehr geehrter Herr Prof. Flassbeck, Ihrer beider Artikel, die ich in der Vergangenheit gelesen habe, haben mein ökonomisches Weltbild vollständig verändert. ( + Makroskop) Ich danke Ihnen beiden, einfach anlässlich dieses Artikels, sehr herzlich. Ich bin Ingenieur, in einem Rotary Club und versuche geduldig Ihrer beider abweichende Denkschule verständlich zu bewerben. Es ist unglaublich schwierig an sich intelligente Menschen für neue Gedanken, in der Ökonomie, zu interessieren und schon gar zu gewinnen.
    Ich bin zähe und mache weiter.
    Mit freundlichen Grüssen
    Manfred Peters

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