Deutschland stürzt weiter ab – und zwar beim wissenschaftlichen Arbeiten

Die Stiftung Familienunternehmen hat das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) beauftragt, zum neunten Mal seit 2006 den Länderindex Familienunternehmen zu erstellen, mit dem festgestellt werden soll, welche Länder besonders günstige Bedingungen für Familienunternehmen bieten und welche dies weniger tun. Herausgekommen ist – jedenfalls in der Art und Weise, wie das Handelsblatt das Ergebnis interpretiert -: „Deutschland stürzt im Standortwettbewerb ab“. Das ist schon deswegen Unsinn, weil es in der Studie gar nicht um ganz Deutschland geht, sondern um die Position der deutschen Familienunternehmen (falls man die separat messen kann, was allerdings zu bezweifeln ist).

Noch fragwürdiger als diese mediale Interpretation aber ist wie bei fast allen Standortrankings das methodische Vorgehen, das die Verbindung von Logik und empirischer Arbeit vermissen lässt: Man stellt eine Reihe miteinander verbundener oder auch nicht miteinander verbundener Einzelindikatoren auf – das Sammelsurium reicht hier von Infrastruktur über Steuern bis Kriminalität, Verschuldung und Versorgungssicherheit bei Strom – und ermittelt numerische Werte für sie. Dann wird daraus mittels Gewichtung, für die es keine theoretische Begründung gibt, ein Gesamtindikator gebildet, der das Ranking bestimmt. Das gemeinnützige wirtschaftswissenschaftliche Forschungsinstitut ZEW, dessen Anspruch es laut eigenem Bekunden ist, „wissenschaftlich fundierte Politikberatung“ zu betreiben, erarbeitet auf diese Weise gemäß seiner selbst gewählten „Mission“ eine „Publikation mit Impact“ und sorgt damit für „Wissenstransfer in die Politik“ und „in die allgemeine Öffentlichkeit“.

Hier zwei Beispiele für das beliebige Zusammenstellen und -rechnen von Daten, die etwas über die Rangfolge ganzer Länder in Hinblick auf ihre Standortqualität für Familienunternehmen aussagen sollen: Beim Teilindikator „Verschuldung“ zieht das ZEW die Verschuldung der privaten und der öffentlichen Haushalte heran. Ein Land, das mehr Schulden in einem bestimmten Jahr hat als ein anderes, steht in den Augen der Autoren schlechter da. Warum eigentlich?

Die USA etwa, die erkannt haben, dass der Staat systematisch einspringen muss, wenn die Unternehmen als Schuldner ausfallen, und deswegen eine sehr dynamische Wirtschaftsentwicklung aufweisen, erhalten einen sehr schlechten Wert. Deutschland, das nichts dergleichen verstanden hat und sich auf seinen Leistungsbilanzüberschuss (also das Verschulden des Auslandes) verlässt (vgl. dazu dieses Papier), steht bei diesem Einzelindikator besonders gut da. Besser sind nur osteuropäische Länder, die aber überhaupt nicht vergleichbar sind, weil sie eine ganz andere Geschichte mitgemacht haben als westliche Länder: Mit dem Ende der planwirtschaftlichen Systeme nach dem Fall des Eisernen Vorhangs fing auch bei den Schulden eine neue Zeitenrechnung an. Entsprechend ist der Stand der seither akkumulierten öffentlichen Schulden im Sinne einer gesamtwirtschaftlichen Buchhaltung nach westlich-marktwirtschaftlicher Lesart ganz automatisch ein anderer.

Zu den Merkwürdigkeiten der Berechnung des Teilindikators „Verschuldung“ kommt hinzu, dass die öffentlichen Schulden, die die Hälfte dieses Einzelindikators bestimmen, in dreierlei Form mit jeweils gleichem Gewicht einbezogen werden: der Bestand an öffentlichen Schulden, der Primärbilanzsaldo des Staatshaushalts (also die Differenz von Ausgaben und Einnahmen des Staates vor Bedienung der Zinsen auf die öffentlichen Schulden) und die Nettozinsen, die der Staat zahlen muss, alles jeweils in Prozent des BIP. Auf diese Weise werden das aktuelle Staatsdefizit und die aktuelle Zinslast zweimal berücksichtigt, denn beide sind ja bereits Bestandteil der bis zum aktuellen Rand akkumulierten Schulden. Begründet wird diese Doppelzählung nicht.

Doch die Einbeziehung des Schuldenstands der privaten Haushalte in den Teilindikator „Verschuldung“ ist im Vergleich dazu noch überraschender. Zum einen bestimmt er 50 Prozent des Teilindikators. Warum gerade 50 Prozent und nicht etwa 10, 40 oder 90 Prozent? Und warum verwendet das ZEW den Bruttoschuldenstand der privaten Haushalte in Relation zu deren verfügbaren Haushaltseinkommen anstelle des Nettoschuldenstands dieses Sektors? Was besagen die Bruttoschulden privater Haushalte – sofern Schulden privater Haushalte überhaupt ein relevanter Standortfaktor für Familienunternehmen sind –, wenn die privaten Haushalte parallel zu ihrer Verschuldung Immobilien und Wertpapierdepots ihr Eigentum nennen?

Die Verwendung von Bruttoschulden führt dazu, dass beispielsweise die USA, wo der Sektor der privaten Haushalte in einer Nettobetrachtung regelmäßig deutlich weniger spart als in Deutschland, in der Bruttorechnung nahezu beim gleichen privaten Schuldenstand von rund 100 Prozent des verfügbaren Haushaltseinkommens landet wie Deutschland. Da Schulden nach Ansicht des ZEW ja ein negatives Standortmerkmal sein sollen, fragt man sich, warum die geringere Sparbereitschaft der Privaten in den USA für das Ranking nicht deutlich negativer zu Buche schlägt als bei Deutschland. In Polen, wo sich die privaten Haushalte zwischen 2003 und 2019 jedes Jahr netto neu verschuldet haben, liegt deren aktueller Bruttoschuldenstand hingegen bei nur knapp 60 Prozent ihres verfügbaren Einkommens. Damit wirken die polnischen privaten Haushalte wesentlich solider als die sparsamen deutschen, und genau diese Aussage geht dann in den Teilindikator „Verschuldung“ und das Gesamtranking ein.

Noch merkwürdiger geht das ZEW bei den Teilindikatoren Produktivität und Arbeitslohn vor, die zusammen mit einem Teilindikator „Humankapital“ zu einem Subindex zusammengerechnet werden, jeweils mit einem Gewicht von einem Drittel. Beim Teilindikator Arbeitskosten stützt man sich auf das Verarbeitende Gewerbe (die Daten kommen wenig überraschend vom IW, dem arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln). Bei der Produktivität verlegt sich das ZEW hingegen auf die Gesamtwirtschaft. Das führt automatisch dazu, dass die im Durchschnitt höher bezahlten Industriearbeitsplätze den Arbeitskostenindikator nach oben, die in der Gesamtwirtschaft im Vergleich zur Industrie geringere Produktivität den Produktivitätsindikator nach unten ziehen. Das verzerrt den Subindex zuungunsten Deutschlands, weil hier der Anteil der Industrie an der Gesamtwirtschaft relativ hoch ist im Vergleich zum Ausland.

In den Erläuterungen steht paradoxerweise, man müsste eigentlich Produktivität und Arbeitskosten zusammenfassen zu den Lohnstückkosten, weil nur die etwas über Wettbewerbsfähigkeit aussagen. Allerdings stellen die Autoren an dieser Stelle fest, das ginge mit den hier vorliegenden Daten nicht, weil die Zahlen aus jeweils anderen Quellen stammten und nicht zusammenpassten. Das ist richtig. Aber warum hat man sie dann zu dem besagten Subindex zusammengefasst?

Oder warum hat man nicht Zahlen ausgewählt, die zusammenpassen? Schließlich liegen Arbeitskosten für die Gesamtwirtschaft vor, die man der gesamtwirtschaftlichen Produktivität gegenüberstellen könnte. Auch lässt sich die Produktivität des Verarbeitenden Gewerbes berechnen, um sie mit den dort anfallenden Arbeitskosten zu Lohnstückkosten zu verrechnen.

Obendrein ist die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität ein Sammelindikator, der sehr viele Bereiche umfasst, weil er sich unmittelbar auf das Bruttoinlandsprodukt bezieht. Folglich sind viele andere Einzelindikatoren wie Steuern, Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte oder Energiepreise in diesem Sammelindikator bereits enthalten. Sie werden aber gesondert ausgewiesen und zusätzlich als Teilindikatoren verwendet, was zu völliger Intransparenz darüber führt, welche Einflussfaktoren mit welchem Gewicht ins Endergebnis des Rankings eingehen.

Hinzu kommt, dass massive Wechselkursänderungen die Ergebnisse der Teilindikatoren erheblich beeinflussen. Das räumen die Autoren zwar ein, haben aber keine schlüssige Bewertung für diesen Vorgang, was heißt, dass auch zufällige spekulative Währungsschwankungen letztlich das Ranking bestimmen.

In einem „Exkurs über Inflation“ findet sich in dieser Studie ein Unterpunkt „Inflation und Wettbewerbsfähigkeit“. Dort rechnet das ZEW plötzlich mit Lohnstückkosten und gibt sogar reale effektive Wechselkurse auf der Basis von Lohnstückkostendifferenzen an (Erläuterungen zur Berechnung findet man im Atlas der Weltwirtschaft). In der Zusammenfassung der Studienergebnisse heißt es richtig: „Für Unternehmen ist die Inflation an einem Standort vor allem dann ein besonderes Problem für die Wettbewerbsfähigkeit, wenn sich unter Berücksichtigung des Wechselkurses und der Entwicklung der Lohnstückkosten eine reale Aufwertung ergibt. Dies bedeutet, dass sich die Produktion von Gütern relativ zu den Kosten an anderen Standorten verteuert. Dies ist bislang aufgrund der schwachen Euro-Entwicklung und der international durchschnittlichen Inflation für Deutschland nicht der Fall.“

Zu einer wissenschaftlich seriösen Berichterstattung hätte an dieser Stelle gehört zu schreiben, dass sich Deutschlands internationale Wettbewerbsposition in den ersten Jahren der Europäischen Währungsunion aufgrund seines Lohndumpings erheblich verbessert hatte und dieser ungerechtfertigte Vorteil gegenüber den Währungspartnern bis heute nicht vollständig abgebaut ist. Doch dazu schreibt das ZEW nichts. Und das Institut erklärt auch nicht, warum es den überaus relevanten Indikator des realen effektiven Wechselkurses auf Lohnstückkostenbasis nicht in den Gesamtindikator des Rankings mitaufgenommen hat.

Insgesamt handelt es sich bei diesem Ranking wie bei fast allen anderen um eine reine Lobbyarbeit, die nur dazu dient, Medienaufmerksamkeit zu erzielen (nach dem Motto: irgendetwas bleibt immer hängen) und bestimmte Interessen durchzusetzen. Es ist bedauerlich, dass sich Institute, die einen wissenschaftlichen Anspruch haben, für solche Arbeiten kaufen lassen. Mindestens so bedauerlich ist es, dass niemals eines der großen Medien in der Lage und willens ist, so eine „Studie“ nach Strich und Faden auseinanderzunehmen.

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