Licht und Schatten – das neue Ziel der europäischen Geldpolitik

Die Neuausrichtung des geldpolitischen Ziels der Europäischen Zentralbank (EZB) gleicht einer Revolution: Der Zentralbankrat hat nach zwanzig Jahren die Zielgröße, an der sich die Geldpolitik orientiert und an der sie gemessen werden will, verändert. Nicht mehr „unter, aber nahe bei zwei Prozent“ liegt ab jetzt die für die Eurozone angestrebte Inflationsrate, sondern bei mittelfristig zwei Prozent. Und zwar dergestalt, dass Abweichungen von dieser Zielrate nach oben und nach unten gleichermaßen unerwünscht sind, wie es in der Erklärung zur geldpolitischen Strategie der EZB heißt. Das bedeutet, wenn die tatsächlich festgestellte Inflationsrate im Euroraum unter der Zielmarke liegt, wird das genauso negativ gewertet, wie wenn die Inflationsrate über der Marke liegt.

Für die Praxis bedeutet diese symmetrische Wertung mehr Freiraum für die Zentralbank, eine über zwei Prozent steigende Veränderungsrate des Verbraucherpreisindex der Eurozone eine Zeitlang zu tolerieren und nicht schnell mit Zinserhöhungen reagieren zu müssen. Es wird also eine Art Ausgleich zwischen Zeiten zu niedriger und Zeiten zu hoher gesamtwirtschaftlicher Preissteigerung ermöglicht, wenn Zielverfehlungen aufgetreten sind. Und unmissverständlich wird definiert, was „zu niedrig“ und was „zu hoch“ bedeutet: „Nach Auffassung des EZB-Rats kann Preisstabilität am besten gewährleistet werden, wenn er mittelfristig eine Inflationsrate von 2 % anstrebt.“

Die Symmetrie gab es bei der bisherigen Zieldefinition nicht, was die EZB unter Handlungsdruck setzte, sobald die festgestellte Inflationsrate auch nur wenige Zehntel Prozentpunkte über die Zielmarke stieg. Lag eine Zielverfehlung nach unten vor, bestand dieser Druck formal hingegen nicht oder zumindest weniger.

Doch was ist das Revolutionäre an dieser Änderung, die rein quantitativ gesehen verschwindend gering ausgefallen ist – die mittelfristig angestrebte Zielmarke selbst hat sich mit 2 Prozent ja so gut wie nicht verändert –, die wissenschaftlich begründet werden kann und die daher längst überfällig war? Es ist die Tatsache, dass sie überhaupt stattgefunden hat.

Traditioneller Widerstand des neoliberalen Mainstream

Denn zumindest in Deutschland waren (und sind mutmaßlich weiterhin) einflussreiche neoliberale Ökonomen strikt gegen eine solche, in ihren Augen als Aufweichung einzustufende Re-Definition von Preisstabilität. So schrieb der ehemalige Präsident des ifo Instituts, Hans-Werner Sinn, in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt im Juli 2019: „Im Maastrichter Vertrag wurde der EZB das nicht verhandelbare Ziel mitgegeben, für stabile Preise zu sorgen, was, wenn man es wörtlich nimmt, eine Inflationsrate von null bedeutet.“ 2016 hatte der Ökonom zusammen mit Gunther Schnabl in der FAZ die Anleihekäufe der EZB als „Droge des billigen Geldes“ kritisiert und gefordert, dem damaligen EZB-Chef Mario Draghi „die Bazooka zu entreißen“. Wörtlich heißt es in dem Beitrag: „Die EZB sollte ihr Inflationsziel wieder stärker am Maastricht-Vertrag orientieren, der Preisstabilität und nicht etwa eine Inflationsrate von nahe zwei Prozent vorschreibt. Mit der semantischen Umdeutung des Mandats sollte Schluss sein.“ (Nebenbei sei bemerkt, dass Hans-Werner Sinn zusammen mit Michael Reutter im Jahr 2000 noch für ein Inflationsziel der EZB von 2,5 Prozent plädiert hatte.)

Auch der ehemalige Vorsitzende des Sachverständigenrats, Lars Feld, dürfte mit der geänderten Zielvorstellung der EZB hadern, hatte er doch noch im April dieses Jahres in einem Interview gesagt: „Ich denke, die Geldpolitik der EZB wird erst restriktiver, wenn wir über eine gewisse Zeit und nicht nur ein oder zwei Monate eine höhere Inflation haben. Ich sage aber auch, dass es nicht unbedingt gut ist, wenn die EZB ein Überschießen zulässt. Denn sie hat ein Inflationsziel von knapp unter zwei Prozent und sollte daran festhalten.“

Bundesbankpräsident Jens Weidmann, bekannt als Befürworter einer eher straffen als lockeren Geldpolitik, kommentiert auf der Homepage der Deutschen Bundesbank die einstimmig – also auch von ihm – verabschiedete Erklärung des EZB-Rats zwar so: „Eine Inflationsrate von 2 Prozent in der mittleren Frist ist als Ziel klar und leicht zu verstehen. Wir streben weder niedrigere noch höhere Raten an. Das war mir wichtig.“ Doch heißt es in dem Text weiter: „Vorübergehend könne es zu Abweichungen vom Ziel in die eine oder andere Richtung kommen, sagte Weidmann. »Aber wir machen unsere Geldpolitik nicht von Zielverfehlungen in der Vergangenheit abhängig: Unsere Strategie bleibt nach vorne gerichtet und berücksichtigt die neue Herausforderung der effektiven Zinsuntergrenze.«“ Das klingt schon weniger überzeugt von der symmetrischen Behandlung von Zielabweichungen. Denn wie soll die funktionieren, wenn Werte aus der Vergangenheit nicht mit in die geldpolitischen Entscheidungen einbezogen werden?

Laut FAZ soll sich Jens Weidmann Anfang Juli 2021 „gegen das Konzept einer flexiblen Inflationssteuerung ausgesprochen [haben], bei dem ein zeitweises Überschießen des Teuerungsziels toleriert wird. Insgesamt überzeuge ihn ein solches Konzept nicht, sagte Weidmann am Donnerstag laut Redetext vor dem Freundeskreis der Ludwig-Erhard-Stiftung.“

Asymmetrie bei den Zinssetzungsmöglichkeiten

Das Problem jeder Zentralbank ist, dass ihre Handlungsmöglichkeiten asymmetrisch sind: Leitzinsen heraufsetzen kann sie rein technisch gesehen unbegrenzt, aber das Absenken findet bei null oder kurz darunter seine Grenze, wie heute jeder Laie an der Eurozone erkennen kann. Die EZB nennt das die „effektive Zinsuntergrenze“. Denn negativen Zinsen, also Kosten für die Geldaufbewahrung bei Banken statt Erträge für Ersparnisse, kann durch Geldhorten außerhalb des Bankensystems bis zu einem gewissen Grad ausgewichen werden. Das ist zwar auch nicht kostenlos zu haben, weil immerhin „Tresorkosten“ anfallen, aber die sind nicht unbegrenzt hoch.

Für eine Zentralbank ist es technisch also einfacher, eine Inflationsrate oberhalb einer Zielmarke zu bekämpfen als eine unterhalb davon, wenn sich die Zielmarke selbst bereits nahe bei null befindet. Das heißt, es entsteht umso leichter eine mittelfristige Verzerrung der Geldpolitik „nach unten“, je kleiner der Spielraum zwischen Zielmarke und effektiver Untergrenze ist: Weil die Geldpolitik ihr Ziel besser gegen inflationstreibende Kräfte durchsetzen kann als gegen deflationär wirkende, steht sie in der Gefahr, im mittelfristigen Durchschnitt eher unter ihrer Zielmarke zu bleiben, wenn sie nicht explizit ein Überschreiten dieser Marke auch „auf Vorrat“ zulässt – von einem Ausgleich zurückliegender Unterschreitungen ganz abgesehen. Es geht um das Aufbauen eines Puffers zwischen Zielrate und effektiver Zinsuntergrenze, der verhindert, dass sich die Gelpolitik in der Nähe der Untergrenze festfährt, wie das in den letzten zehn Jahren in der Eurozone der Fall war. Von dieser Sicht der Dinge scheint der Bundesbankpräsident ausweislich des obigen Zitats nicht völlig überzeugt zu sein.

Das neue Inflationsziel, Inflationserwartungen und Strukturwandel

Nun kann man durchaus fragen, welchen Sinn eine Durchschnittsbetrachtung vergangener Inflationsraten bei der Ausrichtung der aktuellen Geldpolitik hat. Lässt man mit Blick auf vergangene Unterschreitungen aktuelle Zielüberschreitungen zu, befürchten manche, das könne als Tolerieren dauerhaft höherer Inflationsraten oberhalb der Zielmarke missverstanden werden. Und das bildete dann unweigerlich die Grundlage für tatsächlich höhere Preissteigerungsraten.

Das ist ein wenig überzeugendes Argument. Denn alle Akteure, insbesondere die Tarifparteien, wissen, dass die Zentralbank jederzeit die Leitzinssätze erhöhen kann, wenn sie die Inflationsrate für zu hoch hält. Warum also sollten sie ihre Nachfrage allein aufgrund gestiegener Inflationserwartungen stark und damit preistreibend erhöhen und vor allem die Lohnvereinbarungen überdehnen nach all den Erfahrungen, die sie seit der ersten Ölpreiskrise in den 1970er Jahren bis hin zur Eurokrise der 2010er Jahre gemacht haben? Nicht zuletzt hängt der existierende hohe Sockel an Arbeitslosigkeit jeglichen Lohnverhandlungen in der Eurozone wie ein Mühlstein um den Hals. Wer steigende Inflationserwartungen für eine reale Bedrohung der Preisstabilität hält, muss erklären, wie sie sich unter den aktuellen Umständen ganz konkret in dauerhaft höhere Inflationsraten oberhalb des EZB-Ziels übersetzen können. In einer Marktwirtschaft bilden sich Preise nämlich an Märkten unter bestimmten Machtkonstellationen heraus und nicht in den Köpfen von Finanzanalysten.

Das Argument der Erwartungsbildung unterstützt aber die neue Strategie der EZB, wenn man es genau umgekehrt betrachtet: Die Zusicherung der Zentralbank, nicht jeglichen Anstieg des Preisniveaus über die Zwei-Prozent-Marke hinaus sofort mit einer Anhebung der Leitzinssätze zu beantworten, lässt das Vertrauen wachsen, dass es zu spürbaren Relativpreisverschiebungen ohne deflationären Druck kommen kann. Das fördert die private Investitionsbereitschaft, die für den unumgänglichen Strukturwandel benötigt wird. Investitionen sind die treibende Kraft für eine positive wirtschaftliche Dynamik, die den Weg nicht nur aus der Arbeitslosigkeit, sondern auch aus der Nullzinspolitik ermöglicht. Und genau aus der will die Geldpolitik ja herauskommen, ohne die Wirtschaft abzuwürgen. Es ist daher sinnvoll, dass die Zentralbank sozusagen in Vorlage geht.

Je schneller der erforderliche Strukturwandel stattfinden soll, desto größere Spielräume benötigen wir bei den Relativpreisverschiebungen. Denn sie sind das A und O für strukturelle Anpassungsprozesse, die uns in Hinblick auf den Klimawandel zwingend bevorstehen – sei es zu seiner Verhinderung oder wenigstens Begrenzung, sei es zur Anpassung an seine Folgen. Dabei macht es einen großen Unterschied, ob Preise (und mit ihnen Gewinne) in den z.B. für die Entkarbonisierung gefragten Branchen überdurchschnittlich stark steigen und auf diese Weise signalisieren, dass sich Innovationen, Investitionen und Kapazitätserweiterungen dort lohnen, oder ob diese Preise kaum mehr als die gesamtwirtschaftliche Zielrate zulegen und zugleich andere Branchen Preissenkungen verzeichnen. Der rechnerische Effekt für die Relativpreisverschiebung mag sogar der gleiche sein. Doch der Signalcharakter für Investoren, wo es Profit versprechende Engpässe gibt, ist im ersten Fall klarer und stärker und nicht mit einem deflationären Abwürgen in Bereichen kombiniert, die auf Dauer relativ verlieren müssen.

Mit anderen Worten: Die Neuausrichtung des geldpolitischen Ziels der EZB verbessert die Aussichten, dass die europäische Wirtschaft die Entwicklung bewerkstelligen kann, die sie dringend benötigt. Die EZB hat einen Puffer gegen die effektive Zinsuntergrenze definiert (nämlich zwei Prozent) und will ihn durch die Symmetrievorgabe schützen. Das ist gut so.

Begründungen für den Inflationspuffer – die Schattenseite der „Revolution“

Weniger überzeugend aber sind die vier Gründe, die die EZB in dem Strategiepapier für den Inflationspuffer anführt: der „trendmäßige Rückgang des realen Gleichgewichtszinssatzes“, „die Vereinfachung länderübergreifender makroökonomischer Anpassungen im Euroraum, Abwärtsrigiditäten bei den Nominallöhnen und Messfehler“.

Mit Messfehlern, dem vierten Argument, ist eine potenzielle Überschätzung der Preisentwicklung gemeint, so dass die errechnete Inflationsrate systematisch höher als die „tatsächliche“ ausfallen kann. Das hängt mit vielen statistischen Details, etwa der Bewertung des technischen Fortschritts, zusammen, die hier nicht zur Debatte stehen. Sie mögen ein gutes Argument für einen rechnerischen Inflationspuffer sein, sind aber eben auch nicht mehr als eine technische Größe.

Die ersten drei der vier genannten Gründe liefern allerdings tiefe Einblicke in die ökonomische Denkweise der Mitglieder des Zentralbankrats, die wenig Hoffnung aufkommen lassen, dass mit der Re-Definition des geldpolitischen Ziels auch ein neues Verständnis makroökonomischer Zusammenhänge in die Vorstellungen aller Mitglieder dieses Gremiums Einzug gehalten hätte.

Realer Gleichgewichtszins – Feigenblatt und Bankrotterklärung zugleich

Was ist von dem zuerst genannten Argument für einen Inflationspuffer, dem trendmäßigen Rückgang des „realen Gleichgewichtszinssatzes“, zu halten? Zunächst ist zu klären, was man unter dem „realen Gleichgewichtszins“ versteht. „Real“ bedeutet inflationsbereinigt. Beim „Gleichgewichtszins“ handelt es sich, wie die EZB schreibt, um den „Zins, der sich ergibt, wenn alle Produktionsfaktoren voll ausgelastet sind und keinen Preisdruck ausüben“. Er lässt sich „nicht direkt […] beobachten und muss daher geschätzt werden.“, was am Rande bemerkt ja für so manche von Ökonomen erdachte „Gleichgewichtsgrößen“ gilt, die sich genau deswegen nicht beobachten lassen, weil in einer sich permanent verändernden Welt niemals Gleichgewicht herrscht.

Wie dem auch sei, der von der EZB geschätzte „reale Gleichgewichtszins“ muss etwas mit Kapitalangebot und -nachfrage zu tun haben. Denn dass „der reale Gleichgewichtszins im Euroraum über die letzten 20 Jahre spürbar gefallen ist“, deute „darauf hin, dass dem Angebot an Kapital zunehmend eine vergleichsweise geringe Nachfrage gegenübersteht, dass also der Sparwunsch auf eine vergleichsweise geringe Investitionsbereitschaft trifft“. Diese Entwicklung führen die EZB-Ökonomen in erster Linie auf ein sinkendes Trendwachstum der Volkswirtschaft und dieses auf ein abnehmendes Produktivitätswachstum sowie den demografischen Wandel zurück (vgl. ebenda Folie 12 und ebenso in dem eingangs zitierten Strategiepapier der EZB unter Ziffer 1).

Mit dem Konzept des „realen Gleichgewichtszinses“ ist die Idee verbunden, die Geldpolitik habe keinen Einfluss auf diesen Zins und könne ihn zur Steuerung der Inflationsrate im Konjunkturverlauf mit ihren Leitzinsen sozusagen nur umspielen: Sie könne die Leitzinsen oberhalb dieses exogenen Realzinses plus der herrschenden Inflationsrate ansetzen, wenn ihr die Inflation zu hoch erscheine, und unterhalb davon, wenn ihr die herrschende Inflationsrate zu niedrig erscheine. Dem Trend dieses exogenen Realzinses aber könne sie sich nicht entziehen, sondern müsse ihm folgen. Wenn er falle, habe die Geldpolitik ein systematisches, von ihr nicht zu verantwortendes Problem. Denn dann nähme der Spielraum für Zinssenkungen zur Anregung von Konjunktur und Inflation ganz von allein laufend ab.

Da scheint der Wunsch nach einem schützenden Inflationspuffer gegen das Abrutschen in Deflation durchaus naheliegend. Die Geldpolitik kann mit dieser Gedankenkonstruktion eine gelegentliche Akzeptanz höherer Inflationsraten gegenüber dem „Kleinsparer“ und allen anderen Kritikern der Niedrigzinspolitik rechtfertigen, die sich über niedrige oder gar negative Realzinsen ärgern.

Doch der Preis für dieses Feigenblatt ist hoch, weil es die Neuausrichtung des Inflationsziels für die konkrete zukünftige Geldpolitik wirkungslos machen könnte. Denn dass der EZB-Rat das Produktivitätswachstum als ein exogenes Phänomen darstellt, zumindest eines, auf das die Geldpolitik langfristig keinen Einfluss habe, an das sie sich eben nur anpassen könne, kommt einer Bankrotterklärung der Geldpolitik gleich. Das ist nämlich die monetaristische Position der neoliberalen Schule: Das Niveau der langfristigen Zinsen ist nach deren Ansicht Ergebnis von Marktprozessen zwischen Kapitalangebot (Ersparnissen) und Kapitalnachfrage (Investitionen); der technische Fortschritt fällt vom Himmel und wird umso eher auf der Erde umgesetzt, je mehr Gewinne den Unternehmern dank flexibler Arbeitsmärkte, also niedriger Löhne, und dank möglichst niedriger Steuern winken; und die Geldpolitik begleitet mit ihren Leitzinsen lediglich das kurzfristige konjunkturelle Auf und Ab der Wirtschaft, hat aber mit dem langfristigen Trend der ökonomischen Entwicklung nichts zu tun. Diese altbekannte Leier steht in dem Strategiepapier zwar nicht explizit, aber sie ergibt sich automatisch aus dem Konzept des „realen Gleichgewichtszinses“, auf das dort Bezug genommen wird.

Wie ist es möglich, nach den Rettungsaktionen der EZB in der Finanzkrise 2008/2009, nach ihrer – gemessen an den Arbeitslosenzahlen – verfehlten Erpressungspolitik gegenüber Griechenland und anderen südeuropäischen Staaten in der Eurokrise und ihrer derzeitigen Rolle bei der Pandemiebewältigung geradezu selbstverständlich von der langfristigen Einflusslosigkeit der Geldpolitik auf den Trend der realwirtschaftlichen Entwicklung auszugehen, bleibt, um es vorsichtig auszudrücken, schleierhaft. Dass die neoliberalen „Falken“ im EZB-Rat dem Strategiepapier zugestimmt haben, nachdem sie dieses trojanische Pferd in ihm untergebracht haben, verwundert nicht. Die Überwindung des monetaristischen Gedankengebäudes wäre aber dringend notwendig, damit die Geldpolitik die ihr zukommende Verantwortung für die realwirtschaftliche Entwicklung endlich übernehmen und glaubwürdig die dazu unerlässliche Unterstützung der Lohnpolitik einfordern kann.

Abwärtsspirale für alle

Der zweite von der EZB angeführte Grund für den Inflationspuffer, „die Vereinfachung länderübergreifender makroökonomischer Anpassungen im Euroraum“, lässt den naiven Leser staunen: Seit wann stellen reibungslosere makroökonomische Anpassungen zwischen den Ländern der Eurozone ein Problem dar? Wurde nicht laufend höhere Flexibilität und bessere Anpassungsfähigkeit eingefordert, um das Zusammenwachsen der Euro-Länder zu befördern? Nun soll eine Vereinfachung der gesamtwirtschaftlichen Anpassung auf einmal ein Problem darstellen? Mit klarer Kommunikation gegenüber der interessierten Öffentlichkeit, wie sie sich die EZB auf die Fahnen geschrieben hat, hat diese verschwurbelte Formulierung nichts zu tun.

Hier bedarf es einer kleinen Übersetzungshilfe: Wenn sich die makroökonomischen Entwicklungen der Euroländer schneller aneinander anpassen und das in den Augen der EZB den Bedarf nach einem Inflationspuffer begründet, soll mit dem Satz verklausuliert ausgedrückt werden, dass ein abrutschendes Preisniveau in einem Land die Preisniveaus anderer Länder rasch mit sich zieht – zumindest schneller als früher. Oder noch deutlicher übersetzt: Wenn in einem Mitgliedsland der Eurozone wie etwa Deutschland deflationäre Prozesse stattfinden, müssen die anderen Länder inzwischen sehr schnell mitmachen. Ihnen bleibt nach jahrelangen Verlusten bei der Wettbewerbsfähigkeit und entsprechenden Handelsungleichgewichten dank der Maastrichter Schuldenkriterien und des europäischen Fiskalpakts nämlich gar nichts anderes übrig. Die deutschen Lohnabschlüsse geben mittlerweile den Takt für die Europartnerländer vor: Treten die deutschen Tarifparteien auf die Lohnbremse, greift das ruckzuck auf den Rest der EWU über.

Das weiß auch der EZB-Rat. Aber er hat sich offenbar nicht darauf einigen können, den Mechanismus (Inflation als Ergebnis der Lohnstückkostenentwicklung) direkt anzusprechen, das Ross (die Lohnpolitik) zu benennen und den Reiter (Deutschland) zu kritisieren. Das ist ein schwerer Fehler. Der EZB-Rat hat ganz im Sinne der Neoliberalen die Chance verstreichen lassen, die Neuausrichtung seiner Strategie mit einem Hinweis auf die Verantwortung der Lohnpolitik für die Preisentwicklung zu verknüpfen. Gerät die Lohnentwicklung in der Eurozone im Nachgang zur Corona-Krise noch stärker unter die Räder als in den vergangenen zehn Jahren – wofür wegen hoher Arbeitslosigkeit und der erwartbaren Wieder-Fokussierung auf die Schuldenbremse leider vieles spricht –, wird die Geldpolitik trotz Neujustierung ihres Ziels nicht erfolgreicher werden. Das kann dann diese Neujustierung in Misskredit bringen, obwohl der Misserfolg nichts mit dem Strategiewechsel zu tun hätte. Eine solche Entwicklung wäre Wasser auf die Mühlen neoliberaler Monetaristen. Was zeigt, dass man eben nicht nur das richtige Ziel wählen sollte, sondern dafür auch die richtige Begründung liefern muss. Das haben die „Falken“ im EZB-Rat offenbar zu verhindern gewusst.

Lohnrigiditäten – Sündenbock oder zentraler Baustein des Inflationspuffers?

Und damit kommen wir zum dritten Grund, den die EZB für den Inflationspuffer anführt, den „Abwärtsrigiditäten bei den Nominallöhnen“. Dieses Argument zerstört jegliche Hoffnung, dass man sich innerhalb des EZB-Rats in seiner derzeitigen Aufstellung auf eine klare, logisch fundierte Linie der Geldpolitik wird verständigen können. Denn wenn nach unten rigide Nominallöhne einen Inflationspuffer rechtfertigen sollen, heißt das ja umgekehrt, dass ein solcher Puffer überflüssig oder zumindest weniger notwendig wäre, wenn die Nominallöhne nach unten flexibel wären. Solche Ideen stammen aus der neoklassischen Gedankenschublade. Darin sieht es so aus: Wenn Preise sinken und die Nominallöhne nicht, d.h. rigide sind, steigen rein rechnerisch die Reallöhne. Das belastet die Unternehmen, weil ihre Umsätze bei gleichbleibenden Kosten rückläufig sind und daher ihre Gewinne sinken. Die Unternehmen reagieren auf sinkende Gewinne mit weniger Investitionen und mit Entlassungen, was die Gesamtwirtschaft schädigt. Um eine solche Konstellation zu vermeiden, ist es daher gut, wenn die Zentralbank höhere Inflationsraten eine Zeitlang toleriert, damit die Reallöhne wieder sinken oder gar nicht erst steigen. Der Inflationspuffer dient also aus dieser Perspektive dazu, die Abwärtsrigidität von Nominallöhnen auszugleichen.

Der Haken an dieser Argumentation ist, dass nicht erklärt wird, wann und warum Preise sinken. Dieser wichtige Punkt wird nur als Annahme vorausgesetzt, völlig unverbunden mit allen anderen Größen. Hintergrund einer Preissenkung auf breiter Front ist in einer Marktwirtschaft aber ein kräftiger Nachfragerückgang. Der hängt wesentlich mit der Entwicklung der Masseneinkommen zusammen, die ihrerseits hauptsächlich von der Lohnentwicklung bestimmt werden. Nach unten rigide Nominallöhne sind also außerordentlich wichtig im Kampf gegen ein Abrutschen der Gesamtwirtschaft in Deflation!

Man hätte also logisch konsistent argumentieren können, nach unten rigide Nominallöhne stellten eine grundlegende Bedingung für den Schutz vor der Deflationsfalle dar, seien also sozusagen selbst der wesentliche Bestandteil eines Inflationspuffers. Stattdessen werden sie im Strategiepapier der EZB als Grund angeführt, weshalb ein Inflationspuffer notwendig sei. Das zeigt, dass beim EZB-Rat über einen wesentlichen makroökonomischen Zusammenhang in Sachen Deflation Uneinigkeit oder sogar Unkenntnis herrscht. Das Thema Löhne ist und bleibt in der Kommunikation der EZB tabu oder, wenn es doch vorkommt wie an dieser Stelle, dann ausschließlich im neoliberalen Duktus.

So lässt sich die Einstimmigkeit des EZB-Rats bei der Verabschiedung des Strategiepapiers leicht erklären: Die Neoliberalen haben ihr Gedankengebäude in ihm vollständig untergebracht und werden, wenn sich die ärgsten Wogen der Pandemie erst einmal gelegt haben, ihre wirtschaftspolitischen Dogmen weiter zielstrebig und auf Kosten der unteren Einkommensschichten verfolgen. Denn in dem Papier der EZB heißt es auch, „dass die angemessene geldpolitische Reaktion auf eine Abweichung vom Inflationsziel von den jeweiligen Gegebenheiten abhängt und sich nach Ursache, Ausmaß und Persistenz der Abweichung richtet.“ Diese Formulierung lässt viel Interpretationsspielraum offen. Es steht zu befürchten, dass dem Hoffnungsschimmer, der mit der Neuausrichtung des Inflationsziels verbunden ist, noch viel geldpolitischer Schatten folgen wird.

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Ein Gedanke zu „Licht und Schatten – das neue Ziel der europäischen Geldpolitik“

  1. Vielen Dank, liebe Frau Spiecker, für die dreitausendsiebenhunderteinundachtzigste Erleuchtung zu diesem Thema.
    Man sieht einmal wieder: „Hoffnung ist der Kutscher der Armut!“

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