Urteil zur Schuldenbremse – Verschärfung der Abwärtsspirale?

Dass die Höhe, in der der deutsche Staat heute und in den nächsten Jahren de facto Ausgaben auf Kredit tätigt (ganz gleichgültig, wann, wo und wie die Finanzierung dieser Ausgaben verbucht wird), einen großen Einfluss auf die deutsche Wirtschaft und damit automatisch auf die europäische ausübt, steht außer Frage. … Unabhängig von volkswirtschaftlichen Theorien, Modellen, ideologischen Vorstellungen und juristischen Rahmenbedingungen muss die grundlegende Logik einer monetären Volkswirtschaft, dass die Summe aller Ausgaben gleich der Summe aller Einnahmen der Wirtschaftssubjekte ist, in jeder rationalen (Wirtschafts-)Politik berücksichtigt werden.

Das bedeutet im Kern, dass Sparen – ganz gleich von welcher Seite – ein Problem schafft, weil es immer die Einnahmen und die Gewinne der Unternehmen verringert. Berücksichtigt man das nicht, werden nicht nur die eigenen Ziele [der Wirtschaftspolitik] nicht erreicht, sondern es kommt über die nationalen Grenzen hinaus zu konjunkturellen Rückschlägen, für die die Regierung auch dann verantwortlich ist, wenn sie sie nicht beabsichtigt hat.

Dieses Zitat stammt aus meiner Stellungnahme für die Anhörung im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags am 10. Januar 2022.

In dem Beitrag „Hat die Schuldenbremse ihre Flexibilität bewiesen?“ vom Oktober 2021 hatten Heiner Flassbeck und ich geschrieben:

Um beurteilen zu können, welche Wirkungen staatliches Sparen im Zeitablauf hat, muss man sich ein Bild darüber machen, ob von den übrigen Sektoren der Volkswirtschaft zu erwarten ist, dass sie das Gegenteil tun, sich also (zusätzlich) verschulden, um die nachfragemindernde Wirkung des staatlichen Sparens auszugleichen.

Richter sind verpflichtet, die Einhaltung der Verfassung zu prüfen

Es ist dem Bundesverfassungsgericht nicht anzulasten, dass es sich bei seinem Urteil zur Umleitung von Kreditermächtigungen aus dem Corona-Fonds hin zum Klima- und Transformationsfonds innerhalb des zweiten Nachtragshaushaltes des Bundes für das Jahr 2021 dieses Bild nicht gemacht hat. Die obersten Richter können nichts dafür, dass mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit von Bundestagsabgeordneten im Jahr 2009 eine Regelung in Artikel 109 des Grundgesetzes aufgenommen wurde, die dem Staatssektor Scheuklappen in Hinblick auf seine gesamtwirtschaftliche Verantwortung auferlegt. Sie sind gezwungen, Buchungsvorgänge, die der Umgehung dieser Regelung dienen, zu verurteilen. Schließlich sollen sie über die Einhaltung des Grundgesetzes wachen, nicht aber seine Sinnhaftigkeit selbst – und sei es auch nur in Teilen – beurteilen.

Worin besteht die gesamtwirtschaftliche Verantwortung der Wirtschaftspolitik?

Das ist Aufgabe der Volksvertreter. Und dieser Aufgabe werden sie seit 2009 nicht gerecht.

Die deutsche Wirtschaft steckt derzeit in einer Rezession, die auf die europäischen Nachbarstaaten zurückwirkt. Die Europäische Zentralbank (EZB) betreibt zugleich eine restriktive Geldpolitik und befördert dadurch die Abwärtstendenz noch, während geopolitische Spannungen die gesamte Weltkonjunktur belasten und der Klimawandel mit Siebenmeilenstiefeln voranschreitet.

Die Abgeordneten des deutschen Bundestages müssen sich entscheiden: Wollen sie weiter an der Quadratur des Kreises – Einhaltung der Schuldenbremse in einer Rezession bei gleichzeitiger Erfüllung gesetzlicher Pflichten im sozial-, klima- und verteidigungspolitischen Bereich – scheitern und damit Deutschland und Europa massiv schaden oder wollen sie die Schuldenbremse so überarbeiten, dass der Staat seiner gesamtwirtschaftlichen Verantwortung jederzeit gerecht werden kann?

Jederzeit bedeutet, dass nicht erst eine gravierende Notlage eingetreten sein muss, bevor der Staat eingreifen darf, sondern dass der Staat alles in seiner Macht stehende unternehmen muss, solche gravierenden Notlagen von vornherein zu verhindern. Dass er das bei Naturkatastrophen oder anderen exogenen Ereignissen außerhalb seines Machtbereichs nicht kann, steht außer Frage. In diesen Fällen wird er notgedrungen nur während einer Krise gegensteuern und sie abzumildern versuchen, was die Schuldenbremse auch vorsieht. Aber bei allen absehbaren Krisen, in die die Wirtschaft rutscht, ist er zu präventivem Verhalten aufgerufen. Und genau daran hindert ihn die Schuldenbremse in ihrer derzeitigen Form.

Gesamtwirtschaftliche Kenntnisse der Bevölkerung unverzichtbar

Es ist also dringend an der Zeit, grundlegend und ohne parteipolitische oder Lobbyinteressen über die Logik der gesamtwirtschaftlichen Verantwortung des Staates in einer Marktwirtschaft nachzudenken und öffentlich darüber zu debattieren. Nur dann ist es Politikern, die die eingangs angesprochene Logik, was Sparen in einer monetären Marktwirtschaft gesamtwirtschaftlich bedeutet, verstehen, möglich, daraus resultierende Schlussfolgerungen für eine rationale Wirtschaftspolitik zu ziehen, ohne dass sie Gefahr laufen, bei Wahlen explizit dafür abgestraft zu werden. Denn dann steigen die Chancen, dass die Bevölkerung versteht, dass die Gesamtwirtschaft anders funktioniert, als es die einzelwirtschaftliche Erfahrung jeden Menschen lehrt.

Solange in der (ver)öffentlich(t)en Meinung kein Konsens über die gesamtwirtschaftliche Logik erzielt werden kann, ist in einer Demokratie, die ihrem Staatswesen eine Schuldenbremse wie die unsrige verordnet hat, das Scheitern der Wirtschaftspolitik in systembedingten Krisen vorprogrammiert: Der Staat agiert dann regelmäßig zu spät, was die zu lösenden Probleme vergrößert und ihn notorisch überfordert aussehen lässt und auch tatsächlich überfordert.

Goldene Investitionsregel als Reformkompromiss?

Daran ändern Kompromissvorschläge zur Weiterentwicklung der Schuldenbremse in der Form, der Staat müsse Kredite in Höhe seiner Investitionsvorhaben aufnehmen können (= goldene Investitionsregel), nicht wirklich etwas. Eine solche Regelung garantiert nämlich nicht, dass der Staat die Wirtschaft so hinreichend anregen darf, dass die Sparbemühungen der Privaten in Krisenzeiten überspielt werden.

Schließlich machen die öffentlichen Investitionen nur einen kleineren Teil der gesamten Staatsausgaben aus: Die öffentlichen Konsumausgaben sind im Vergleich zu den Investitionen der öffentlichen Hand gut acht Mal so hoch. In einer Rezession leeren sich die Kassen des Sozialversicherungssystems im Handumdrehen und nehmen die Steuereinnahmen ab. Der Staat wäre dann auch unter einer mit Blick auf öffentliche Investitionen revidierten Schuldenbremse gezwungen, zu sparen oder die Steuern zu erhöhen – was prozyklisch statt stabilisierend wirkt.

Zudem dürfte strittig sein, welche Staatsausgaben konsumtiven, welche investiven Charakter haben. Ist zum Beispiel das Gehalt einer Lehrkraft an einer öffentlichen Schule, deren Arbeit der Bildung der nächsten Generation zugutekommt, eine öffentliche Konsumausgabe wie in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) oder eine Zukunftsinvestition? Sind die Anschaffungen militärischer Ausrüstung wie in der VGR als öffentliche Investition anzusehen, die in das Gut „äußere Sicherheit“ gesteckt werden? Oder müssen sie als öffentlicher Konsum gelten, weil sie die Produktivität der Wirtschaft nicht direkt erhöhen?

Eine echte Reform der Schuldenbremse

Eine echte Reform der Schuldenbremse muss die Möglichkeit, besser: die Pflicht beinhalten, dass der Staat seine Maßnahmen jederzeit antizyklisch in Hinblick auf das Verhalten der inländischen privaten Wirtschaftsakteure gestalten kann.

Das bedeutet nicht, dass der Staat mit Geld um sich wirft. Er muss die Finanzierungsmittel selbstverständlich effizient einsetzen. Ob sie aus Steuern und Abgaben stammen oder aus Krediten, ändert an dieser Grundforderung nichts. Denn mit diesen Mitteln werden Ressourcen verbraucht, die – genau wie im Privatsektor – in der Regel knapp sind und nicht verschwendet werden dürfen.

Eine solche vernünftige Reform legt entsprechend auch nicht fest, wofür der Staat die Mittel verwenden soll. Das ist Gegenstand des politischen Entscheidungsfindungsprozesses und hat nichts mit dem Umfang der eingesetzten Mittel zu tun.

Unbestreitbar ist es eine schwierige Aufgabe, den Umfang der staatlichen Verschuldung im Voraus konjunkturgerecht zu bestimmen, weil das ja eine möglichst präzise Prognose der Wirtschaftsentwicklung voraussetzt. Doch ist dieses praktische Hindernis nicht unüberwindbar. Denn erstens kann nachjustiert werden wie etwa an den Nachtragshaushalten in der Corona-Pandemie abzulesen. Voraussetzung dafür ist, dass die Wirtschaftspolitik bereit ist, aktuelle Entwicklungen auch zeitnah wahrzunehmen und sich die Lage nicht schönredet.

Und zweitens und wichtiger noch kann das Versprechen des Staates, sich aktiv und rechtzeitig gegen Abwärtsspiralen und ebenso gegen Überhitzung durch den Umfang der von ihm eingesetzten Haushaltsmittel zu wenden und nicht nur auf die antizyklische Wirkung der Sozialversicherungen zu setzen, viel Vertrauen im Privatsektor schaffen. Stellen die Menschen fest, dass sich die Wirtschaftspolitik tatsächlich für eine stabile positive Gesamtentwicklung einsetzt, die sie selbst mit ihrem einzelwirtschaftlichen Rationalverhalten nicht jederzeit auf die Beine stellen können, müssen sie sich nicht in erster Linie an ihrer prozyklisch agierenden privatwirtschaftlichen Umgebung orientieren. Dann besteht die Chance, dass sich Abwärtsspiralen tatsächlich langsamer entfalten und der Staat eine Trendwende schneller und dadurch mit insgesamt weniger Ausgaben herbeiführen kann.

Konjunktureller Ausblick

Doch eine solche Reform der Schuldenbremse dürfte angesichts der weit verbreiteten Vorstellungen über die Funktionsweise einer Marktwirtschaft, der Verantwortung des Staates für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und, wie all das mit den außenwirtschaftlichen Verhältnissen zusammenhängt, illusorisch sein.

Die aktuellen Informationen und zu erwartenden Entwicklungen ergeben ein düsteres Bild für die Zukunft: Alle Preissteigerungsraten auf der Erzeugerstufe – von den landwirtschaftlichen Produkten über die der Industrie mit und ohne die Energiebranche bis hin zum Großhandel – weisen in Deutschland und großenteils in der ganzen EU abnehmende oder sogar negative Werte auf. Das drückt die Stimmung der Sachinvestoren in den Unternehmen. Bei den Verbrauchern sitzt die Verunsicherung, obwohl sich ihre Realeinkommen zu erholen beginnen, tief, so dass von ihnen keine hinreichend starke konjunkturelle Anregung zu erwarten sein dürfte.

Die Zinspolitik der EZB lastet wie gesagt auf der europäischen Konjunktur.

China kämpft inzwischen mit Deflation auf der Verbraucherpreisstufe und fällt als Nachfragelokomotive der Welt aus. In den USA steht das Wahlkampfjahr bevor, das seine Schatten bereits mit dem Entlanghangeln von Shutdown-Streit zu Shutdown-Streit im Parlament vorauswirft. Die USA werden ihre Schuldnerrolle gegenüber dem Rest der Welt sicher nicht ausbauen wollen. Das bedeutet, dass die E(W)U nicht auf kräftig steigende Außenbeiträge gegenüber dem Rest der Welt wird setzen können, um konjunkturell den Kopf aus der Rezessionsschlinge zu ziehen.

Einigen sich die Mitgliedstaaten außerdem nicht auf eine sinnvolle Neuordnung der europäischen Fiskalregeln, gelten die alten weiter und erschweren es der Fiskalpolitik, sich gegen die drohende Rezession zu stemmen.

Deutschland versucht – jetzt verschärft durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts – die Schuldenbremse einzuhalten, was die Regierungskoalition noch stärker blockieren wird als bisher. Obendrein steht die Rückzahlung der Corona-Kredite in den nächsten Jahren an. Der politische Druck, auch von anderen EU-Ländern hartes Sparen im Rahmen der europäischen Fiskalregeln einzufordern, wird daher noch zunehmen. Das wiederum wird die konjunkturelle Misere in Europa verstärken.

Fazit

In Deutschland und Europa stehen die Zeichen deshalb auf Kontraktion. Dagegen können sich die Privaten nicht stemmen, sie können sich dieser Entwicklung nur anpassen und werden sie eben dadurch verschärfen. Solange das von den Politikern nicht verstanden und der Bevölkerung offen kommuniziert wird mit dem Ziel, die systembedingte Notwendigkeit einer staatlichen Verschuldung in Krisenzeiten zu erklären und politische Mehrheiten dafür zu gewinnen, gibt es keinen Ausweg aus der verfahrenen Situation.

Es steht zu befürchten, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts keine in diesem Sinne grundlegende Reform der Schuldenbremse auslöst. Dann erweist es dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, dem Klimaschutz und unserer Demokratie einen Bärendienst und trägt zur Steigerung der Zustimmung zu rechtspopulistischen bis rechtsradikalen Parteien und Strömungen bei.

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