Dieser Artikel ist am 26.10.2023 auf telepolis.de erschienen.
Die Politik hat aus der vergangenen Euro-Krise nicht viel gelernt. Die gemeinsame Währung steht erneut unter Druck. Was die Analyse am Beispiel Litauens zeigt und was zu tun wäre.
Die Euro-Krise liegt jetzt über zehn Jahre zurück. Ihre eigentlichen Ursachen sind bis heute nicht aufgearbeitet oder verstanden worden. Neue Spannungen in der Eurozone bauen sich zurzeit auf, und schon jetzt wird deutlich, wie sehr die Verantwortlichen in der Europäischen Zentralbank (EZB), in der EU-Kommission und auf nationaler Ebene die Situation verkennen. Im aktuellen Monatsbericht der Deutschen Bundesbank etwa wird auf die zunehmenden Divergenzen der Wettbewerbsfähigkeit innerhalb des Euroraums zwar hingewiesen (S. 20 f), aber keinerlei Schlussfolgerungen für die Frage der inneren Stabilität des Euros gezogen.
Die zwischen 2010 und 2013 offen zutage getretene Euro-Krise hatte sich über das erste Jahrzehnt des Bestehens der Europäischen Währungsunion (EWU) angebahnt. Sie wurde mühsam unter Inkaufnahme großer wirtschaftlicher Schäden durch fragwürdige Austeritätspolitik eingedämmt. Das führte in weiten Teilen der europäischen Bevölkerung zu einem erheblichen Vertrauensverlust in den Euro, die EU und ganz allgemein in das Projekt der europäischen Einigung. Obwohl eine schlüssige, handlungsleitende Analyse der Krise deshalb dringend geboten gewesen wäre, ist es bis heute bei einem bunten Strauß an Erklärungsansätzen geblieben. Aus diesem Potpourri folgt alles Mögliche oder auch nichts, worauf man sich mehrheitlich oder gar einstimmig in der EU einigen könnte.
Auf jeden Fall ergibt sich aber so keine Lösung des Problems, das in jeder Währungsunion gelöst sein muss, damit sie langfristig Bestand hat: Die Mitgliedsländer dürfen nicht gegeneinander um höhere Wettbewerbsfähigkeit kämpfen. Das wird von den meisten Verantwortlichen nicht verstanden und, wenn doch, ist ihnen unklar, wie das systematisch erreicht werden kann, oder sie halten die Umsetzung für unmöglich.
Kampf um Wettbewerbsfähigkeit zwischen Unternehmen sinnvoll, zwischen Staaten kontraproduktiv
Wenn Unternehmen um Wettbewerbsfähigkeit kämpfen, scheiden dauerhaft unterlegene aus dem Markt aus. Die Arbeitskräfte, die dadurch ihren Arbeitsplatz verlieren, können zu erfolgreichen Unternehmen wechseln – ein oft schmerzhafter Prozess des Strukturwandels. Kämpfen Staaten um Wettbewerbsfähigkeit, können die dabei dauerhaft unterlegenen Länder hingegen nicht von der Landkarte verschwinden.
Ihre Bevölkerung ist auch nach dem Verlust von immer mehr Arbeitsplätzen noch da, will und muss sich selbst versorgen und kann nicht in großem Umfang in die im Wettbewerb überlegenen Länder einwandern. Wenn der sogenannte „Standortwettbewerb“ zwischen Nationen darin mündet, sie in wettbewerblich langfristig über- und unterlegene zu teilen, ist er gefährlich, weil er in den unterlegenen Ländern materielle Not mit sich bringt und den Nationalismus fördert.
Die internationale Wettbewerbsfähigkeit eines Landes können aber weder seine Unternehmen noch die internationalen Märkte (darunter unregulierte Devisenmärkte) systematisch gewährleisten, nämlich weder schützen noch begrenzen. Warum? Auf Märkten, zumal auf internationalen, wird anonym miteinander gehandelt.
Jeder Anbieter sollte die Zahlungsfähigkeit seiner Kundschaft einschätzen können, er muss und kann es aber nicht in Hinblick auf die des gesamten Landes, aus dem seine Kundschaft stammt. Denn einem einzelnen Anbieter aus einem wettbewerbsfähigen Land mit Kundschaft aus einem nicht wettbewerbsfähigen Land ist dessen mangelnde nationale Wettbewerbsfähigkeit gleichgültig, solange seine Kundschaft ihn bezahlt und er die Währung, in der er bezahlt wird, ohne unerwartete Wechselkursverluste in die eigene umtauschen kann.
Ob der Wechselkurs zwischen den Währungen zutreffend widerspiegelt, welche durchschnittliche Produktivität hinter einer Stunde Arbeit in dem einen Land im Vergleich zum anderen steht, dafür tragen weder die Anbieter von Gütern noch deren Nachfrager Verantwortung. Davon hängt aber ab, ob sich die Bewohner eines ganzen Landes auf Dauer nur so viel von außen einzukaufen leisten, wie sie auch auf Dauer bezahlen können, sprich: wie sie durch Verkäufe ans Ausland finanzieren können. Oder ob sie wegen einer Überbewertung ihrer Währung über ihre Verhältnisse leben, also dauerhaft insgesamt in Form von Nettoimporten mehr verbrauchen, als produzieren. Dass ein solches nationales Über-seine-Verhältnisse-Leben langfristig nicht funktioniert, liegt auf der Hand. Das bedeutet zugleich, dass auch ein langfristiges nationales Unter-seinen-Verhältnissen-Leben nicht nachhaltig sein kann.
Nebenbei: Manche halten die EWU für zum Scheitern verurteilt, weil sich in ihr Staaten mit unterschiedlich hoher Arbeitsproduktivität zusammengeschlossen haben. Diese Kritik geht jedoch ins Leere. Denn die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes hängt nicht von seiner absoluten Arbeitsproduktivität ab, also von der Höhe des Kapitalstocks, mit dem seine Arbeitsplätze im Durchschnitt ausgestattet sind.
Vielmehr ist die Bewertung entscheidend, die diese Arbeitsproduktivität in Form von Güterpreisen erfährt. Auch ärmere, weil unproduktivere Länder können international wettbewerbsfähig sein, wenn sie ihre Produkte auf den internationalen Märkten so günstig wie die Konkurrenz anbieten. Bei Ländern mit gemeinsamer Währung ist das direkt eine Frage der Preise. (Bei eigenständigen Währungen kommt noch der Wechselkurs zwischen den Währungen der Handel treibenden Länder als Scharnier hinzu.)
In einer Währungsunion sind die Lohnstückkosten zentral für den Ausgleich der Wettbewerbsfähigkeit
Doch wer trägt die Verantwortung dafür, dass es zu keinem dauerhaften außenwirtschaftlichen Ungleichgewicht kommt, wenn die einzelnen Wirtschaftsakteure auf den diversen Gütermärkten dazu definitionsgemäß nicht in der Lage sind? In einer Währungsunion fällt die (suboptimale) Möglichkeit, diese Aufgabe an die Devisenmärkte zu delegieren, weg, denn nominale Wechselkurse zwischen Ländern der Eurozone gibt es nicht. Wie aber kann ein solches Ungleichgewicht dann vermieden werden?
Der einzige, nachhaltige Weg besteht darin, dass die Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Mitgliedstaaten einer Währungsunion so ausgeglichen ist und langfristig bleibt, dass kein Land dauerhaft Defizite oder Überschüsse im internationalen Handel macht. Dabei geht es nicht um bilaterale Defizite und Überschüsse zwischen Unionsmitgliedern – die können durch gegenläufige Defizite und Überschüsse mit Drittländern aus Sicht des einzelnen Unionsmitglieds aufgewogen werden. Vielmehr geht es um den Saldo, den jedes Land mit dem gesamten Rest der Welt einschließlich der Währungspartnerländer hat.
Um auf Dauer ungefähr ausgeglichene Salden zu erreichen, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens müssen die Unionsmitglieder zu einem Wechselkurs ihrer nationalen Währung gegenüber der gemeinsamen Währung in die Union eintreten, der längere Zeit stabil war und bei dem ihre Leistungsbilanz ungefähr ausgeglichen war. Zweitens müssen sich die Preisniveaus der Mitgliedstaaten ab Eintritt in die Währungsunion weitgehend gleich entwickeln. Dann hat nämlich kein Unionsmitglied einen Handelsvorteil auf nationaler Ebene, sondern allenfalls nur alle Unionsmitglieder zusammen. Und gegen den können sich Drittländer prinzipiell wehren, weil ihre eigene Währung gegenüber der Union abwerten kann.
Erforderlich ist also, dass sich jedes einzelne Unionsmitglied an das vereinbarte Inflationsziel der supranationalen Zentralbank hält. Die nationale Lohnpolitik ist dafür das zentrale Instrument. Sie muss dafür sorgen, dass der Lohn im Landesdurchschnitt auf Dauer im Tempo der durchschnittlichen Produktivität des Landes plus der Zielrate der Zentralbank steigt. Das nennt man die goldene Lohnregel. Wie es jedes Unionsmitglied bewerkstelligt, sie einzuhalten – ob durch eine gesamtwirtschaftlich verantwortungsvolle Lohnpolitik der Tarifparteien, durch staatlich gesetzte Mindestlöhne oder andere Lohnfindungsmechanismen –, ist von den Strukturen jedes Landes abhängig und bleibt letzten Endes jedem Land überlassen.
Makroökonomische Ungleichgewichte zu verhindern ist eines der EU-Ziele
Dieser Zusammenhang ist essenziell für den Bestand einer Währungsunion. Bei der Gründung der EWU wurde er kaum beachtet, geschweige denn institutionell so abgesichert, dass hier keine Probleme auftreten können.
Zugegeben, institutionelle Vorkehrungen für die Einhaltung der goldenen Lohnregel sind nicht leicht zu treffen. Aber dass über dieses Kernproblem nicht einmal seit der Euro-Krise offen diskutiert wird, ist ein eklatantes Versäumnis der EU-Kommission und der EZB: Länder, die sich mit einer vernünftigen Lohnpolitik schwertun, werden auf diesem Feld bis heute nicht konstruktiv beraten. Über ihre Staatshaushalte wird hingegen fast unentwegt debattiert. Dabei ist der Zustand der öffentlichen Finanzen in erster Linie davon abhängig, wie es in den beiden privaten Sektoren eines Landes, dem der Unternehmen und dem der privaten Haushalte, läuft. Verliert ein Land innerhalb einer Währungsunion laufend an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, steuert der Staatshaushalt automatisch auf sich vergrößernde Schuldenberge zu.
Die EZB-Verantwortlichen wissen das. Sie wissen auch, dass sie mit ihrer für alle Unionsmitglieder einheitlichen Zinspolitik nicht differenziert auf die unterschiedlichen Preis- bzw. Lohnstückkostenentwicklungen einwirken können, sondern als Maßstab immer nur den Durchschnitt der Eurozone haben. Umso dringender wäre es, dass die Zentralbank mit den Ländern ins Gespräch kommt, deren Lohnstückkostenentwicklung nicht zum Inflationsziel der Union passt, sodass sich die Wettbewerbsfähigkeit der Unionsmitglieder auseinanderentwickelt.
Die EU-Kommission hat mit dem „europäischen Semester“ – das ist ein fester jährlicher Rhythmus, in dem Analysen und Empfehlungen zu jedem EU-Land erarbeitet werden – eigentlich ein Rahmenwerk für die wirtschaftspolitische Steuerung an der Hand. Zu dessen Zielen zählt explizit die Verhinderung übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte in der EU.
Aber die Kommission nutzt dieses Rahmenwerk nicht sinnvoll: Aus einem großen Bündel an Indikatoren zieht sie nicht die relevanten Informationen heraus, die ihr einigermaßen zuverlässig und vor allem rechtzeitig anzeigen, wo sich Ungleichgewichte zusammenbrauen.
Das aktuelle Problem von EU und EZB am Beispiel Litauens
Im Falle exogener Preisschocks – wie die durch die Corona-Pandemie und den russischen Krieg gegen die Ukraine ausgelösten – kann das Inflationsziel der Zentralbank kurzfristig nicht eingehalten werden. Dann kommt es darauf an, dass alle Mitgliedstaaten ungefähr gleich stark und gleich lang von der Zielrate der Zentralbank abweichen. Agieren sie sehr unterschiedlich, gerät die Währungsunion in Schieflage.
Und genau hier liegen gravierende ökonomische Probleme, vor denen die EU-Kommission und die EZB aktuell stehen. Das soll am Beispiel Litauens gezeigt werden. Litauen hat zwar erst 2015 den Euro eingeführt, aber bereits elf Jahre vorher den Wechselkurs seiner Währung gegenüber dem Euro fixiert.
Die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten in diesem baltischen Land entfernt sich vom Durchschnitt der Eurozone seit Jahren (in Abbildung 1 ist der Zeitraum ab 2010 dargestellt; bereits zuvor kumulierte Litauen gesamtwirtschaftliche Lohnstückkostensteigerungen oberhalb des Durchschnitts der EWU).
Diese Tendenz hat sich seit 2020 noch deutlich verstärkt. Das bedeutet, dass die Wettbewerbsfähigkeit Litauens seinen Handelspartnern gegenüber in der EWU laufend und seit der Corona-Pandemie massiv abgenommen hat. Als Gegenbeispiel wird hier Spanien gezeigt, das sich seit der Euro-Krise dem schmerzhaften Prozess einer Lohnstückkostensenkung unterzogen hat, um sich gegen die überlegene deutsche Wettbewerbsfähigkeit zu wehren, die ihm Erfolge beim internationalen Handel verbaute.
Die Diskrepanz der Lohnstückkostenentwicklung seit 2010 in Hinblick auf Litauen (wie auch der beiden anderen, hier nicht dargestellten baltischen Staaten) ist verglichen mit den Ungleichgewichten, die sich im ersten Jahrzehnt der EWU zwischen den Mitgliedstaaten aufbauten, wesentlich stärker. Das zeigt der Vergleich von Abbildung 1 mit Abbildung 2, wo der gleiche Indikator, allerdings ab dem Jahr 2000, dargestellt wird, und zwar für das damalige Krisenland Nummer eins, Griechenland, und den größten damaligen Abweichler vom gemeinsamen Inflationsziel nach unten, nämlich Deutschland.
Die Gefahr, dass Litauens Wirtschaft den aktuellen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit nicht verkraftet, ist offensichtlich heute ungleich größer als die Gefahr, in der sich griechische Anbieter damals befanden.
Dieses Problem wird durch die überdurchschnittliche Steigerung der baltischen Energiepreise im Vergleich zum Rest der EWU, auf den die Deutsche Bundesbank in ihrem Monatsbericht auf Seite 20 in Fußnote 16 explizit hinweist, noch verschärft, weil dieser importierte Preisschub ja in die Vorleistungskosten einfließt.
Doch warum wird über diese Gefahr, in der sich einige EWU-Länder befinden, kaum diskutiert? Warum schreibt der Rat der Europäischen Union in seiner Pressemitteilung vom 14. Juli 2023, „dass in den eingehenden Überprüfungen 2023 der Schluss gezogen wurde, dass in Estland, Lettland, Litauen, Luxemburg, der Slowakei und Tschechien keine Ungleichgewichte bestehen, da die Anfälligkeiten unter Kontrolle zu sein scheinen“?
Auch von der EZB hört man nichts im Hinblick auf Beratung der EWU-Länder, die gerade dabei sind, durch extreme Lohnsteigerungen die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer heimischen Unternehmen zu ruinieren. Dabei müssten sich die Zentralbanker dafür interessieren, weil eine solche Entwicklung die Stabilität des Euro bzw. der Eurozone gefährdet.
Staatsschuldenstand und 3-Jahres-Leistungsbilanzsaldo sind nachlaufende Indikatoren
Die Antwort dürfte sein, dass nicht die Lohnstückkostenentwicklung, sondern die Höhe der Staatsschulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) sowie der Drei-Jahres-Durchschnitt des Leistungsbilanzsaldos im Verhältnis zum BIP als die wichtigen Indikatoren für makroökonomische Ungleichgewichte angesehen werden.
Und in der Tat, bei der ersten Kennziffer können sich die genannten Länder sehen lassen, allen voran Estland, dessen Schuldenquote im Jahr 2022 laut Eurostat 18 Prozent des BIP betrug. Auch die litauische liegt mit 38 Prozent weit unterhalb der 60-Prozent-Marke der europäischen Fiskalregeln. Zum Vergleich: Deutschland rang jahrelang um das Erreichen dieser Marke, schaffte das 2019 und liegt seither wieder klar darüber, zuletzt mit 66 Prozent.
Sich vom Kriterium der Staatsschulden in Sicherheit wiegen zu lassen, ist aber wenig sinnvoll. Denn was nützt es einem litauischen Unternehmen, wenn zwar sein Staat geringe Schulden und es selbst möglicherweise geringe Steuerlasten zu schultern hat, es aber mangels Wettbewerbsfähigkeit den Betrieb einstellen muss? Was nützt es dem bei einem solchen Unternehmen bislang Beschäftigten, wenn er zwar weiß, dass er als Steuerzahler keine hohe Zinslast seines Staates mitzutragen hat, aber gerade seinen Arbeitsplatz verliert?
Der andere Indikator, der Durchschnitt des Leistungsbilanzsaldos über drei Jahre, reagiert definitionsgemäß verzögert und kann deshalb drohende Ungleichgewichte nicht frühzeitig anzeigen. Der litauische Saldo hat sich zum Beispiel zwischen 2022 und 2022 von +7,3 Prozent des BIP über +1,1 im Jahr 2021 auf -5,5 Prozent verschlechtert, was im Drei-Jahres-Durchschnitt für 2022 noch +1 Prozent ergibt.
Der hohe positive Wert im Jahr 2020 dürfte auf eine Sonderkonjunktur der Elektronikbranche im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zurückzuführen sein. Er illustriert ein Problem, vor dem viele Schwellenländer stehen: Dort haben sich westliche Unternehmen spezifischer Branchen angesiedelt, die mit der hohen Produktivität ihrer Technologie die Lohnstückkostenexplosion der vergangenen Jahre auf nationaler Ebene überstehen können, weil das Ausgangsniveau ihrer betrieblichen Lohnstückkosten sehr gering ist.
Entsprechend groß ist der Puffer, der in ihren Gewinnmargen steckt und den sie anzapfen können, bevor sie die extremen Lohnstückkostenzuwächse in den Preisen in einem Maße weitergeben müssen, das ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit untergräbt. Diese Unternehmen produzieren für den Export des jeweiligen Landes, sodass dessen Handels- bzw. Leistungsbilanz den großen Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit nicht eins zu eins widerspiegelt.
Doch für die ursprünglich inländischen Unternehmen dieser Schwellenländer, die bisher nicht die hohe Kapitalintensität der Exportunternehmen in westlicher Regie erreicht haben, ist die Lohnstückkostenentwicklung der letzten Jahre nahezu untragbar. Eines Tages werden sie dem internationalen Wettbewerb nicht mehr standhalten können. Das schlägt auf den Arbeitsmarkt durch.
Bis sich der Staat aber nicht nur geringeren Steuereinnahmen, sondern auch steigenden Transferausgaben und damit einer zügig steigenden Neuverschuldung oder gar dem Überschreiten der 60-Prozent-Marke des Staatsschuldenstandes gegenübersieht, dauert es noch eine Weile. Und das nicht nur, weil der aktuelle Schuldenstand noch vergleichsweise niedrig ist, sondern auch, weil die Bevölkerung dem Mangel an Arbeitsplätzen mit Auswanderung begegnet. Dieses „Migrationsventil“ wird übrigens in den baltischen Staaten schon seit Jahren genutzt und entvölkert die drei Länder.
Keine guten Aussichten für die Eurozone
Die Finanzmarktakteure dürften sich im Gegensatz zur Kommission und der EZB schneller darüber klar werden, welche EWU-Länder nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Das könnte zu einem deutlich steigenden Niveau der langfristigen Zinsen dort führen, das inländische private Sachinvestoren abschreckt und von den jeweiligen Staatshaushalten nicht lang durchgehalten werden kann.
Wie werden die „alten“ Mitgliedstaaten der EWU, die EU-Kommission und die EZB dann reagieren? Mit monetären Rettungsschirmen, die die Souveränität der nationalen Parlamente infrage stellen? Mit gescheiterten Austeritätsrezepten der 2010er-Jahre?
Hört man sich an, was die führenden Politiker aller drei Koalitionsparteien der deutschen Regierung für die Beendigung der deutschen Rezession anstreben, nämlich eine Verbesserung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit, ahnt man, welcher gordische Knoten hier geschlungen wird. Ist er erst einmal festgezurrt, werden noch mehr Menschen als bislang über die EZB und die Wirtschaftspolitik in der EU empört und vom Euro sowie ganz allgemein vom System Marktwirtschaft enttäuscht sein.