Wem auch immer dieses Bonmot zuzuschreiben ist, es lässt einen schmunzeln und nimmt Schärfe aus einer Debatte, in der es um die Sache gehen sollte und nicht um persönliche Rechthaberei. Die Vorhersage der Wirtschaftsentwicklung ist in so unruhigen Zeiten wie den gegenwärtigen tatsächlich ein heikles Geschäft für jeden, der sich daran wagt. Da Einschätzungen über die zukünftige Entwicklung der Volkswirtschaft eines Landes oder eines Kontinents für eine vorausschauende Wirtschaftspolitik aber wichtig sind, muss man die Qualität von Prognosen, auf die sich die Entscheider stützen, aber gerade dann genau unter die Lupe nehmen.
Unvorhersehbare Schocks nicht einkalkuliert zu haben oder sich einfach zufällig zu irren, ist nicht das eigentliche Problem gesamtwirtschaftlicher Prognosen, sondern systematisch Einschätzungsfehlern zu unterliegen. Denn Prognosen mit derlei Fehlern führen die Wirtschaftspolitik eben systematisch und nicht versehentlich-zufällig in die Irre. Besonders fatal ist, wenn die Prognosen durch die Verwendung komplexer Wirtschaftsmodelle bei der Berechnung der Zahlen als objektiv neutral angesehen werden. Dadurch fühlen sich Beratende wie Beratene womöglich irgendwie abgesichert oder zumindest in ihrer Einschätzung gerechtfertigt. Kommt es dann anders, als mit den Modellen berechnet, schiebt man Fehleinschätzungen schnell auf die Unzulänglichkeit der Modelle in turbulenten Zeiten.
Dieses Manko von Modellvorhersagen ist jedoch im Voraus bekannt. Will man dennoch wirtschaftspolitische Entscheidungen in turbulenten Zeiten auf sie stützen, ist es daher notwendig zu prüfen, ob die Veränderungen der modellgestützten Prognosen sinnvoll interpretiert werden können. Die Prognosen werden durch die Einspeisung von neuen ex post-Daten laufend an die tatsächliche Entwicklung angepasst, ob die nun unvorhersehbare Schocks mit sich gebracht hat oder nicht. Am aktuellen Rand bilden sie die Realität daher notgedrungen ab. Das heißt aber gerade nicht, dass sie auf jeden Fall auch für den Prognosezeitraum – jenseits unvorhersehbarer neuer Schocks – die Verarbeitung bereits eingetretener Schocks ökonomisch einigermaßen schlüssig widerspiegeln. Wenn die Modellprognosen letzteres nachweislich nicht leisten, taugen sie nichts.
Interdependenz von Geldpolitik und gesamtwirtschaftlicher Entwicklung
Meines Erachtens kann man dieses Problem an den drei zurückliegenden Prognosen der Europäischen Zentralbank (EZB) erkennen. Das Direktorium der EZB kann sich dabei nicht auf den Standpunkt zurückziehen, die Projektionen würden von den Mitarbeitenden der Zentralbank unabhängig und quasi objektiv erstellt und sie, die Leitung, reagiere mit ihrer Politik lediglich darauf. Denn selbstverständlich nimmt die Geldpolitik jederzeit auf das wirtschaftliche Geschehen Einfluss und ist daher Teil sowohl der im Nachhinein feststellbaren tatsächlichen wie auch der erwarteten Abläufe. So wie die EZB nämlich das Verhalten der Wirtschaftsakteure und deren Erwartungen in ihre Entscheidungen einzubeziehen sucht, tun dies umgekehrt auch die Wirtschaftsakteure mit der durchgeführten und der erwarteten Geldpolitik. Die Interdependenz beider Seiten muss in jeder ex post-Analyse und jeder Prognose berücksichtigt werden.
In den folgenden Tabellen sind die Veränderungsraten verschiedener gesamtwirtschaftlicher Indikatoren der Eurozone aufgelistet, die den drei Prognosen der EZB vom März, Juni und September 2023 entnommen sind und die wesentliche Grundlage für die Zinsentscheidungen waren. In den Zeilen stehen untereinander jeweils die Werte der Indikatoren für das zurückliegende Jahr 2022, das laufende Jahr 2023 und den anschließenden Prognosezeitraum 2024 und 2025. In der März-Projektion waren die Angaben für das Jahr 2023 weitgehend prognostizierte Werte, da der Großteil des Jahres noch in der Zukunft lag und die Statistik dem aktuellen Rand naturgemäß immer ein paar Wochen hinterherhinkt. Hingegen sind jetzt in der jüngsten Prognose vom September – abgesehen von Revisionen durch das Europäische Statistikamt – die kurzfristigen monatlichen und vierteljährlichen Indikatoren für das erste Halbjahr 2023 und teilweise darüber hinaus weitgehend bekannt und legen insofern die Zahlen für das Gesamtjahr 2023 zu einem erheblichen Teil fest.
Die schrumpfende Wachstums-Prognose
Der EZB-Projektion für die Zuwachsrate des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts – auch reales BIP genannt – in der Eurozone (Tabelle 1) ist zu entnehmen, dass die EZB-Verantwortlichen die Entwicklung im Vergleich zum Frühjahr (damals noch +1,0 Prozent) inzwischen pessimistischer einschätzen. Das hat vor allem damit zu tun, dass die eingetretene Entwicklung bis einschließlich des dritten Quartals 2023 schlechter gelaufen ist als erwartet. In der Prognose, die einen veralteten, zu hohen Schätzwert von Eurostat für das zweite Quartal und eine Stagnation für das dritte enthält, ist die noch anstehende Entwicklung für das vierte Quartal mit +0,1 Prozent (hier nicht dargestellt) um drei Zehntelpunkte schwächer angesetzt als noch im Juni, aber weiterhin positiv.
Tabelle 1
Auf ihre insgesamt enttäuschten Wachstumserwartungen hat die Geldpolitik aber nicht mit einem Stopp ihrer Zinserhöhungen oder gar einer Zinssenkung reagiert. Die Zielrate beim Verbraucherpreisindex von zwei Prozent wird nämlich weiterhin verfehlt und im Verlauf der drei Prognosen sogar zunehmend verfehlt (Tabelle 2): Statt um 5,3 Prozent legt das Preisniveau nun im Jahresdurchschnitt 2023 geschätzt um 5,6 Prozent zu. Auch für das Jahr 2024 sind die Prognosewerte seit März von 2,9 Prozent auf jetzt 3,2 Prozent angehoben worden.
Tabelle 2
Und genau damit begründen die Zentralbanker die weitere Straffung ihrer Geldpolitik: Die „Inflation“ sinke auf kurze und mittlere Sicht nicht schnell genug, sondern erweise sich als hartnäckig. Deshalb müsse die Nachfrage weiter gedämpft werden, um den Prozess der Beruhigung der Preissteigerungsraten zu beschleunigen, so die EZB.
Die Gretchenfrage ist: Schätzt die EZB die Wirkung ihrer Zinspolitik sowohl auf die Preissteigerungsrate als auch auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung richtig oder im Ablauf ihrer Prognosen wenigstens konsistent ein?
Auf mögliche Gründe, weshalb die Steigerungsrate der Verbraucherpreise nicht so rasch zurückgeht und bislang weniger auf die Zinspolitik reagiert als von der EZB erwünscht, bin ich u.a. in dem Beitrag „Lob für die deutschen Unternehmen“ eingegangen. Wenn meine Analyse den Kern des Problems im Wesentlichen richtig erfasst, steht die Begründung der EZB für ihre derzeitige Politik auf wackeligem Fundament. Denn dann ginge die Preissteigerungsrate auch ohne die extreme geldpolitische Straffung zurück und könnte sich Europa die negativen Nebenwirkungen dieser Politik sparen.
Doch sind ja aus Sicht der EZB diese Nebenwirkungen gar nicht so gravierend – sie sagt keine Rezession in der Eurozone voraus. Aber sind die Vorstellungen der EZB zur Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage in der Eurozone auch plausibel? Es nützt ja nichts, sich am aktuellen Rand als zu positiv herausstellende Erwartungen zwar im Ist-Datenstand zu korrigieren, an den positiven Erwartungen selbst aber einfach festzuhalten und sie nur etwas weiter in die Zukunft zu verschieben, ohne sich analytisch unvoreingenommen mit der Frage auseinanderzusetzen, warum es aktuell nicht so gekommen ist wie gedacht. Wer hier zu keinen halbwegs befriedigenden Antworten gelangt, muss sich vorwerfen lassen, dass eine positiv prognostizierte Dynamik eher auf Wunschdenken beruht als auf fundierten, sachlichen Überlegungen.
Die Konsum-Prognosen widersprechen sich im Zeitablauf
Um die BIP-Prognose besser zu verstehen, muss man sich die beiden wichtigsten Komponenten der inländischen Verwendung, den privaten Konsum und die Investitionen, in preisbereinigter Rechnung ansehen. Beginnen wir mit dem privaten Konsum (Tabelle 3).
Tabelle 3
Im Verlauf der drei Prognosen wird die de facto zunehmend schwache Entwicklung des privaten Verbrauchs für das Jahr 2023 nachvollzogen – notgedrungen, da sie statistisch immer mehr belegt ist: Statt von +0,7 Prozent gehen die Währungshüter nun von lediglich +0,3 Prozent aus. Interessant ist, wie die Fachleute der EZB die Entwicklung des privaten Verbrauchs für das kommende Jahr einschätzen. Den sehen sie stärker wachsen als 2023, was sie mit hohen Lohnabschlüssen auf der einen Seite und dem erwarteten Rückgang der Preissteigerungsraten andererseits begründen.
Merkwürdig ist jedoch, dass sich diese Einschätzung im September (+1,6 Prozent für 2024) gegenüber der aus dem Frühjahr (+1,3 Prozent) verstärkt hat, obwohl die „Inflations“prognose für 2024 in der Zwischenzeit ungünstiger ausgefallen ist. (Zwar haben die Zentralbanker ihre Vorstellung vom Konsumzuwachs im Juni von +1,9 Prozent wieder nach unten korrigiert, aber sie liegt in der September-Projektion nach wie vor über der vom März.)
Nimmt man mit ins Bild, dass sich an der Einschätzung der Löhne (Arbeitsentgelte pro Beschäftigten) seit dem Frühjahr praktisch nichts geändert hat (Tabelle 4), fragt man sich, warum die Hoffnung auf einen anziehenden privaten Verbrauch gestiegen ist. Dessen aktuelle Entwicklung zeigt bestenfalls eine Abflachung, und es ist kein Impuls für eine Beschleunigung in Sicht, der nicht schon im März bekannt gewesen wäre. Vielmehr glaubt die EZB selbst an einen Impuls zum Schlechteren, wenn sie ihre Vorhersage der Preisniveauentwicklung nach oben korrigiert.
Tabelle 4
Nun mag man ein paar Zehntelpunkte Veränderung in der Einschätzung der Preisniveauentwicklung für nicht so ausschlaggebend für den privaten Verbrauch halten. Wenn man aber diesen Standpunkt vertritt, kann man nicht gleichzeitig behaupten, man wolle mit Zinserhöhungen die Nachfrage dämpfen, um die Preissteigerungsrate zügiger auf das Zwei-Prozent-Niveau zu zwingen. Entweder man sieht in der insgesamt rückläufigen Preissteigerungsrate einen Grund für mehr Konsum; dann muss die Korrektur der Erwartungen an der Preisfront hin zum Negativen auch die Einschätzung der Konsumaussichten eintrüben. Oder man sieht den Zusammenhang zwischen Konsum- und Preissteigerung als eher locker an, dann sollte man das Drehen an der Zinsschraube nicht explizit mit der Dämpfung der Nachfrage begründen, von der der private Verbrauch der größte Teil ist. Hier liegt ein argumentativer Widerspruch vor, dem sich die Währungshüter stellen müssten.
Prognostizierte Reallöhne steigen langsamer als prognostizierter privater Verbrauch
Eine simple Überschlagsrechnung anhand der Prognosewerte ergibt folgendes: Im laufenden Jahr steigen die Löhne nominal um 5,3 Prozent (Tabelle 4) und die Verbraucherpreise um 5,6 Prozent (Tabelle 2), was eine Senkung des Reallohns um ungefähr 0,3 Prozent ergibt. Der reale private Verbrauch soll darauf laut EZB mit +0,3 Prozent Zuwachs reagieren. Das kann er nur, wenn man von einer Senkung der Sparneigung der privaten Haushalte im Durchschnitt ausgeht oder von mehr bzw. länger arbeitenden Menschen. Die Seitwärtsbewegungen, die Beschäftigung und Arbeitslosigkeit in der Eurozone seit Beginn des Jahres an den Tag legen, sprechen nicht für die zweite Variante.
Für das kommende Jahr ergibt die gleiche Überschlagsrechnung, dass die Reallöhne um 1,1 Prozent (berechnet als 4,3 – 3,2) zunehmen. Würde der private Verbrauch tatsächlich um 1,6 Prozent steigen, hieße das, dass erneut mehr gearbeitet und/oder weniger gespart werden müsste. Beides scheint angesichts einer von der EZB prognostizierten leichten Zunahme der Arbeitslosigkeit wenig wahrscheinlich. Mit anderen Worten: Eine Beschleunigung des Konsumwachstums von 0,3 Prozent auf 1,6 Prozent ist trotz der unterstellten Reallohnzunahme sehr optimistisch.
Für eine realistische Einschätzung des Verbraucherverhaltens in den nächsten Monaten muss man folgendes fragen: Wie werden Lohneinkommensbezieher unterhalb des Medians auf den Wegfall nicht tarifwirksamer Inflationsausgleichszahlungen (also Einmalzahlungen) reagieren, wie sie etwa in vielen deutschen Tarifverträgen vereinbart wurden? Denn das Preisniveau sinkt ja nicht absolut. Wer heute gerade einmal so über die Runden kommt, der kann aus einer Lohnsteigerung, die wieder von einer niedrigeren Basis (nämlich der ohne Einmalzahlungen) ausgeht, nur dann mehr Konsum generieren, wenn die Steigerung die Einmalzahlung mehr als wett macht, derjenige länger arbeitet und/oder sich verschuldet. Alle drei Varianten sind nicht sehr wahrscheinlich.
Vor allem aber stehen diese Aussichten auch all denen vor Augen, denen es materiell noch nicht so schlecht geht, dass sie ihr komplettes Arbeitseinkommen aktuell ausgeben müssen. Diese Gruppe dürfte jedoch befürchten, in so eine Lage geraten zu können. Vor diesem Hintergrund wird deren Sparneigung eher konstant bleiben oder sogar steigen. Das Vorsichtsprinzip dürfte bei den Privaten auch dadurch an Gewicht gewinnen, dass sie befürchten, dass die Energiepreisbremsen aufgrund der europäischen Fiskalregeln bzw. der deutschen Schuldenbremse abgeschafft werden. Schließlich hat die EZB die Regierungen der EU-Länder explizit zu solchen Schritten aufgefordert. Selbst wenn die Energiepreisbremsen aktuell nicht greifen, könnte die Sorge vor einem Wiederanziehen der Energiepreise die Sparneigung in der Mittelschicht stärken. Mit einer vom privaten Konsum getriebenen Erholung der Wirtschaft wird es dann nichts.
Die aktuelle Investitionsprognose spiegelt die Statistik am aktuellen Rand nicht wider
Ganz besonders fragwürdig aber sind die Zahlen, die die Währungshüter für die Entwicklung der realen Investitionen unterstellen (Tabelle 5). Im vergangenen Jahr war die Investitionstätigkeit mit +2,9 Prozent nicht gerade überbordend, vergleicht man sie mit Vor-Corona-Zeiten (z.B. 2019 +6,9 Prozent). Für das laufende Jahr hat die EZB ihre im März noch eher pessimistische, vermutlich auf Sorgen wegen der Energiekrise beruhende Einschätzung (+0,3 Prozent) spürbar auf immerhin +1,7 Prozent nach oben korrigiert – und das trotz der zwischenzeitlich weiter deutlich gesteigerten Leitzinsen. Wie passt das zu der Feststellung, die Transmission der Geldpolitik in die Realwirtschaft hinein sei stark?
Die +1,7 Prozent sind aber auch deshalb erstaunlich, weil Eurostat die beiden Verlaufsraten, also die Veränderung gegenüber dem jeweiligen Vorquartal, für das erste und zweite Quartal 2023 mit jeweils +0,3 Prozent angibt. Um im gesamten Jahr 2023 auf +1,7 Prozent Zuwachs zu kommen, müssten sich die Verlaufsraten im zweiten Halbjahr mehr als verdoppeln, z.B. auf je +0,8 Prozent.
Tabelle 5
Welcher Impuls dieser prognostizierten Wende zum Besseren zugrunde liegen soll, bleibt ein Geheimnis der Zentralbanker. Immerhin korrespondiert dieses Geheimnis mit folgendem Absatz aus einer Rede, die die EZB-Präsidentin Ende August in Jackson Hole gehalten hat: „Vor allem wird es wahrscheinlich zu einer Phase vorgezogener Investitionen kommen. Diese wird weitgehend konjunkturunabhängig sein, weil der Investitionsbedarf dringend ist und weil der öffentliche Sektor entscheidend dazu beitragen wird, diesen Bedarf herbeizuführen.“
Meint Christine Lagarde wirklich, dass, weil ein dringender Investitionsbedarf besteht, auch tatsächlich investiert wird? Muss man also nur aufschreiben, was man für notwendig hält, und dann tritt es auch ein? Nein, das genügt als Fundament einer Investitionsprognose nicht. Noch dazu, wenn man zugleich der Fiskalpolitik Anweisungen erteilt, den Gürtel enger zu schnallen. Private Investoren kann man in einer Marktwirtschaft nicht einfach zwingen, Geld in einen „grünen“ Kapitalstock zu stecken, dessen Rendite sie mangels hinreichender Auslastungsperspektiven für zu gering halten im Vergleich zum geldpolitisch bestimmten Zinsniveau.
Wichtig ist zu verstehen, dass die Geldpolitik, die in erster Linie die Investitionen trifft, dadurch nicht allein auf die Nachfrage heute, sondern vor allem auf das Güterangebot in der Zukunft einwirkt. Werden Investitionen gedrosselt, werden bestehende Engpässe auf der Angebotsseite nicht oder langsamer behoben und es entstehen womöglich neue. Die zitierte Vorstellung der EZB-Präsidentin zeigt, dass die EZB-Führung der Wirkung ihrer Zinspolitik auf die realwirtschaftliche Angebotsseite keine hinreichende Beachtung schenkt. Sie erschwert dadurch die Erreichung ihres eigenen Ziels einer Preissteigerungsrate von zwei Prozent.
Übrigens steht die Investitionsprognose 2023 in eindeutigem Widerspruch zur Entwicklung des Kreditvolumens, das die Banken in der Eurozone an Firmen und private Haushalte vergeben: Dieses ist im ersten Halbjahr auf rund 0 Milliarden Euro eingebrochen (nach monatlich über 40 Milliarden Euro im gleichen Zeitraum des Vorjahres). Das lässt sich einer Grafik aus einem auf der EZB-Internetseite erhältlichen Foliensatz entnehmen, den das EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel anlässlich eines Treffens mit dem deutschen Bankenverband verwendet hat (siehe die folgende Abbildung).
Abbildung
Die Überschrift der entsprechenden Folie lautet denn auch folgerichtig: „Strong transmission to funding costs and bank lending“ („Starke Übertragung [der Zinspolitik; Anm. d. Verf.] auf Finanzierungskosten und Bankkredite“, meine Übersetzung). Kaum zeitversetzt zur Leitzinsanhebung im Juni 2022 ging das von den Banken in der Eurozone vergebene Kreditvolumen zurück – von einer Lag-Struktur zwischen 4 und 6 Quartalen, wie sie die EZB üblicherweise unterstellt, kann keine Rede sein. Und das erklärt auch, warum die von Eurostat veröffentlichten Quartalszahlen zur Investitionstätigkeit so gering sind: Die immer stärker angezogene Zinsbremse drosselt die Anlageinvestitionen zügig und auf breiter Front. Wie soll es da zu einem Wiederanziehen noch in diesem Jahr kommen?
Immerhin hat die EZB ihre Investitionsprognose für das Jahr 2024 zwischen März und September 2023 deutlich korrigiert, nämlich von einem Zuwachs um 1,4 Prozent auf einen Rückgang um 0,4 Prozent. Für 2025 glaubt die EZB bei den Investitionen in der Eurozone trotz aller Notwendigkeiten eines Strukturwandels und aller Fördermaßnahmen nur an ein Plus von 1,4 Prozent. Das wären Bremsspuren der Geldpolitik, die sich Europa nicht leisten sollte. Doch fallen sie „dank“ des vorhergesagten Konsumaufschwungs in der prognostizierten BIP-Wachstumsrate nicht so auf.
Fazit
Und so konnte sich die Mehrheit der Währungshüter Mitte September dem Vorschlag der Falken, die Zinsen nochmals zu erhöhen, offenbar guten Gewissens anschließen, nämlich in der prognosegestützten Überzeugung, dass die weitere Zinsanhebung einerseits auf die Realwirtschaft schon nicht so schlimm wirken werde und andererseits das „Biest“ Inflation nur mit harter Hand zu zähmen sei.
Die hier vorgelegte Analyse der drei jüngsten Prognosen zeigt, dass die bisherigen Fehleinschätzungen nur sozusagen technisch in Form von Korrekturen am aktuellen Rand berücksichtigt, aber nicht zum Anlass genommen werden, die Überlegungen, die der ursprünglichen Prognose zugrunde lagen, zu hinterfragen. Das legt den Verdacht nahe, dass die Währungshüter – anders als sie öffentlich kundtun – weniger einen von ex post-Daten gestützten, in sich logischen Ansatz ihrer Geldpolitik verfolgen als daran arbeiten, eine der gewünschten harten Geldpolitik vordergründig nicht zuwiderlaufende aktuelle Prognose vorzulegen. Das wird für die Realwirtschaft nicht gut ausgehen und der politischen Radikalisierung Vorschub leisten.