Die erneute Anhebung der Leitzinsen um 0,25 Prozentpunkte durch die Europäische Zentralbank (EZB) am 14. September 2023 ist im Gegensatz zu den neun vorangegangenen Erhöhungsschritten im EZB-Rat nicht mehr einstimmig beschlossen worden sondern laut der EZB-Präsidentin Christine Lagarde nur noch mit einer „soliden“ Mehrheit. Das öffentliche Echo ist ebenfalls nicht mehr so einheitlich wie zuvor. Einige Fachleute wie der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher betonen das Risiko, das die EZB mit diesem Schritt in Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung in der Eurozone eingehe. Der Experte des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Markus Demary kritisiert die Entscheidung mehr oder weniger direkt: „Die EZB hat sich dafür entschieden, den Inflationsdruck aus der Wirtschaft herauszunehmen und nimmt für die Preisniveaustabilität eine Rezession in Kauf“.
In der EZB-Pressekonferenz wurde Lagarde gefragt: “[W]hat do you say to people who might accuse you of making a likely recession worse and adding to the woes of the eurozone economy?” (“Was sagen Sie Leuten, die Ihnen vorwerfen, eine voraussichtlich eintretende Rezession zu verschlimmern und so die Probleme der Wirtschaft in der Eurozone noch zu verstärken?“; meine Übersetzung)
Die Präsidentin antwortete: „[W]e are doing that, not because we want to force a recession but because we want price stability to be there for people who are taking the brunt of inflation and high prices, and predominantly for those who are not the most privileged people.” (“Wir machen das [gemeint ist die Zinserhöhung; Anm. von mir], nicht weil wir eine Rezession erzwingen wollen, sondern weil wir Preisstabilität wollen für diejenigen, die die Hauptlast der Inflation und hoher Preise tragen und überwiegend nicht die privilegiertesten Leute sind.“; meine Übersetzung)
Das klingt nach sozialem Verantwortungsbewusstsein, was die EZB in den Augen vieler als Beschützerin der „kleinen Leute“ erscheinen lässt und dadurch scheinbar unangreifbar macht. Die EZB-Führung betont in ihrem Pressestatement, dass „[d]er zugrunde liegende Preisdruck … hoch [bleibt], obgleich bei den meisten Indikatoren eine Abschwächung eingesetzt hat.“ Ihr geht die Preissteigerungsrate nicht schnell genug zurück. Deshalb will sie diesen Prozess durch die erneute Zinssteigerung beschleunigen. Dass dieser Kurs nicht risikolos ist, gesteht die EZB selbst zu: „Die Risiken für das Wirtschaftswachstum sind abwärtsgerichtet. Das Wachstum könnte sich verlangsamen, wenn die Geldpolitik eine kräftigere Wirkung entfaltet als erwartet …“.
Das berühmte Pfeifen im Walde – die Wachstumsprognose der EZB
In ihrer neuen gesamtwirtschaftlichen Prognose vom September, deren Details als Download auf dem EZB-Server verfügbar sind, geht die EZB aber davon aus, dass ihre Zinspolitik die wirtschaftliche Entwicklung der Eurozone nicht abwürgen wird. In der Rechnung der Verlaufsraten (Änderungsraten von Quartal zu Quartal) fällt zunächst auf, dass für das abgelaufene zweite Quartal 2023 ein veralteter, zu hoher Wert (+0,3 Prozent statt +0,1 Prozent) verwendet wird. Für das laufende dritte Quartal wird nun – notgedrungen, denn die Indikatoren zeigen Stagnation an – 0,0 Prozent prognostiziert statt der +0,3 Prozent in der Juni-Projektion. Aber bereits im vierten Quartal soll wieder ein minimales Wachstum zustande kommen (+0,1 Prozent im Verlauf), das sich dann innerhalb von zwei weiteren Quartalen zügig auf +0,4 Prozent erhöht und dieses Tempo bis zum Ende des Vorhersagezeitraums 2025 beibehält.
Wäre die aktuelle Berechnung von Eurostat für das zweite Quartal verwendet worden, wäre die Korrektur des Prognosewerts für das gesamte Jahr 2023 größer ausgefallen, als jetzt bekanntgegeben: Die im Juni vorausgesagten +0,9 Prozent des BIP in der Eurozone schrumpfen dann nicht nur auf +0,7 Prozent, sondern auf +0,5 Prozent. Das hätte möglicherweise kritischere Rückfragen in der Pressekonferenz nach sich gezogen. Wollte man die vermeiden?
Doch auch jenseits dieses Details sind die prognostizierten Verlaufsraten mutige, um nicht zu sagen: unrealistische Annahmen. Es ist verständlich, dass die EZB keine Rezession in der Eurozone vorhersagen will, während sie gleichzeitig die Leitzinsen noch einmal erhöht. Das ließe sich der Öffentlichkeit selbst mit dem erwähnten sozialen Verantwortungsbewußtsein kaum noch rechtfertigen.
Was aber lässt die Währungshüter vermuten, dass die Bremsspuren ihrer Zinspolitik so milde ausfallen werden? Denn sie betonen an anderer Stelle, dass der Transmissionsmechanismus zwischen Leitzinsen, Kreditvergabe und realer gesamtwirtschaftlicher Nachfrage gut funktioniere: „Unsere bisherigen Zinserhöhungen zeigen weiterhin eine starke Wirkung. Die Finanzierungsbedingungen haben sich weiter verschärft und dämpfen zunehmend die Nachfrage.“ Nur beim letzten Schritt, dem eigentlichen Ziel der aktuellen Geldpolitik, hakt es: Die Steigerungsrate der Verbraucherpreise reagiert nur sehr langsam auf die schwächelnde Nachfrage – darum ja die erneute geldpolitische Straffung nach dem Motto „wenn die Medizin nicht wirkt, erhöhen wir die Dosis“.
Das legt die Frage nahe, ob die Zinspolitik ein eher unwirksames Mittel zur Bekämpfung von Preisschüben ist, die vor allem auf Preissteigerungen bei Energie- und Rohstoffimporten (einschließlich Nahrungsmitteln) zurückzuführen sind, nicht aber auf einen Nachfrageboom. Und was ist, wieder medizinisch gesprochen, von einem Mittel zu halten, das schädliche Nebenwirkungen hat, dem Erreichen des eigentlichen Ziels aber kaum dient? In einer solchen Situation müssten diese Nebenwirkungen viel stärker in den Blick genommen werden.
Wer zwischen verschiedenen Ursachen von Preisniveausteigerungen klar unterscheidet, weiß, dass das jeweilige gesamtwirtschaftliche Umfeld, in dem sich die Geldpolitik abspielt, verschieden ist. Werden die Zinsen in Reaktion auf einen überbordenden Nachfrageboom, der das Preisniveau unerwünscht stark ansteigen lässt, erhöht, befinden sich Unternehmen und Verbraucher bei Straffung der Geldpolitik in einer ganz anderen Ausgangslage, als wenn eine Zinserhöhung als Reaktion auf einen großen exogenen Preisschock erfolgt. Zeitliche Verzögerungsmuster zwischen Zinspolitik und Reaktion der Preissteigerungsrate dürften sich je nach zugrunde liegendem Szenario erheblich unterscheiden.
Wie wäre die EZB zufrieden zu stellen gewesen? Ein Gedankenexperiment
Um die Wirkung der Zinspolitik in der gegenwärtigen Lage besser einschätzen zu können, hilft folgendes Gedankenexperiment: Wie müssten sich die Wirtschaftsakteure eines Landes, das fossile Energie in erheblichem Umfang importiert, verhalten, damit die Zentralbank des Landes bei einer extremen Preissteigerung dieser Importgüter die Leitzinsen nicht erhöht? Wenn die Zentralbank den gleichen Prinzipien anhängt, die die EZB derzeit vertritt, wäre Voraussetzung für ein Stillhalten der Geldpolitik, dass die Preissteigerungsrate trotz des Importpreisschubs bei einem für die Wirtschaft zentralen Gut auf dem gewünschten Niveau von 2 Prozent bleibt oder nur kurz und geringfügig davon abweicht.
Wie wäre das zu erreichen? Die übermäßige Kostensteigerung bei den Energieimporten müsste durch eine Kostensenkung anderswo ausgeglichen werden, damit die Unternehmen zu keinen entsprechend höheren Steigerungen ihrer Absatzpreise gezwungen wären. Da kurzfristig die Substitution der teuren Importe durch andere inländische oder ausländische Güter entweder nicht ausreichend funktioniert oder wegen Verknappung auch auf diesen „Ersatz“-Märkten zu höheren Preisen dort führt, bleiben nur zwei Wege: zunehmende Produktivität und/oder sinkende (bzw. um weniger als 2 Prozent steigende) Preise für andere Vorleistungen und den Faktor Arbeit.
Die Produktivität lässt sich bekanntlich nicht über Nacht, sondern nur über einen längeren Zeitraum mit Investitionen erhöhen, sagen wir von mindestens zwei Jahren für Planung, Bestellung und Inbetriebnahme. Dieses Mittel zur Preisdämpfung fällt also kurzfristig als Lösungsmöglichkeit aus. Denn um diese kurze Frist geht es ja, wenn man die EZB als Maßstab für die Geduld einer Zentralbank nimmt, auf eine Beruhigung der Preissteigerungsrate auf einen exogenen Schock hin zu warten.
Bleibt die zweite Lösungsmöglichkeit. Weil die vom Inland beeinflussbaren Preise aller inländischen Vorleistungen im Wesentlichen selbst auf Arbeitskosten beruhen, genügt es, sich an dieser Stelle auf den Preis für Arbeit, den Lohn, zu konzentrieren. (Wer den Wettbewerb auf manchen inländischen Märkten für ungenügend hält, kann auch die Gewinnmargen als potenziellen Preispuffer heranziehen. Ich verzichte an dieser Stelle darauf, um das Gedankenexperiment einfach zu halten. Das gesamtwirtschaftliche Ergebnis, auf das es hier ankommt, ist das gleiche.)
Da es sich um ein Gedankenexperiment handelt, sei von Umsetzungsproblemen abstrahiert und stattdessen angenommen, in den Tarifverträgen gäbe es eine Klausel, die bei unvorhersehbaren Importpreisschüben eine entsprechend entgegengesetzte Lohnentwicklung vorsähe, so dass die Kostensteigerungen der Unternehmen aufgefangen würden. Dann müssen die Unternehmen ihre Preise nicht entsprechend stark erhöhen und die Zentralbank sieht keine Notwendigkeit, die Leitzinsen anzuheben.
Allerdings sinken dann die nominalen Löhne und mit ihnen die nominalen Masseneinkommen. Trotz Einhaltung der Zielinflationsrate und Stillhalten der Zentralbank käme es zu einem Realeinkommensverlust – die Umverteilung von Kaufkraft aus dem Inland hin zu den Ländern mit fossilen Exporten lässt sich eben nicht vermeiden. Dieser Realeinkommensrückgang löst seinerseits über die sinkende private Konsumnachfrage, den daraus folgenden Rückgang der Kapazitätsauslastung und damit der privaten Investitionsnachfrage eine Rezession aus.
Mit anderen Worten: Eine Rezession als Reaktion auf einen importierten Energiepreisschub ist unvermeidlich.
Es sei denn, die Fiskalpolitik versucht, den Realeinkommensverlust abzufedern (wie das in Europa viele Regierungen getan haben), und/oder die Geldpolitik reagiert mit einer Zinssenkung (wenn sie nicht schon wie die EZB damals bei Nullzinsen steht), um die Nachfrage anzuregen.
Importierte Preisschübe sind hinzunehmen
Zurück zur Realität: Wir haben keine Tarifklauseln zur Kompensation von Importpreisschüben. Daher sind durch derlei Preisschübe ausgelöste Preiserhöhungen bei praktisch allen Gütern im Umfang der Energieintensität ihres Produktionsprozesses vorprogrammiert. Ein Realeinkommensverlust ist also genauso unvermeidlich wie bei dem angestellten Gedankenexperiment, nur dass er nicht durch sinkende Nominaleinkommen, sondern durch steigende Preise entsteht.
Die Zentralbank der Ölimportländer kann in einem solchen Fall nicht zwischen Inflationsbekämpfung und Rezession wählen, sondern nur zwischen Rezession und einer Verschärfung der Rezession (durch Zinsanhebung) oder einer Abfederung der Rezession (durch Zinssenkung) – den Preisschub selbst kann sie nicht verhindern. (Das ist den eingangs zitierten Kritikern der EZB-Zinsentscheidung offenbar entgangen. Deshalb bleibt ihrer Kritik auch die Einstufung als „Ansichtssache“ anhaften und bringt die Währungshüter nicht in Bedrängnis.)
Die EZB hätte die auf breiter Front ablaufenden Preisanpassungen daher hinnehmen müssen, statt nach den pandemiebedingten Preisschüben beim nächsten großen Schock, der Energiepreiskrise, die Nerven zu verlieren und die Leitzinsen anzuheben. Sie konnte den Realeinkommensverlust an die ausländischen Rohstofflieferanten nicht verhindern und nicht einmal mildern, weil das Zinsniveau bereits bei null war.
Sie hat ihn allerdings durch die Zinsanhebung verschlimmert, weil dadurch die Investitionstätigkeit behindert wird. Und dieser Schaden geht über den inzwischen verursachten Nachfrageausfall weit hinaus.
Die fatalen Nebenwirkungen eines unbrauchbaren Mittels
Denn eigentlich will sich Europa aus der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen wenigstens teilweise befreien. Für diesen Strukturwandel bedarf es entsprechender Investitionen. Und die werden umso weniger getätigt, je teurer ihre Finanzierung ist und je schlechter die Perspektiven für die gesamtwirtschaftliche Auslastung ausfallen. Zwar gibt es langfristig Substitutionseffekte von fossiler hin zu erneuerbarer Energie, wenn Öl teurer wird, was den Strukturwandel befördert. Aber kurzfristig schlägt der negative Einkommenseffekt einer starken Ölpreissteigerung wie jeder anderen massiven Rohstoffpreiszunahme zu Buche.
Schraubt die Zentralbank in einer solchen Konstellation die Zinsen nach oben, schwächt sie die Wirtschaft zusätzlich und verlängert so die Abhängigkeit von den fossilen Brennstoffen. So ironisch es klingt: Die Zentralbank erschwert auf diese Weise die Beseitigung der realwirtschaftlichen Engpässe, die den importierten Preissteigerungen dauerhaft Einhalt gebieten könnte, konterkariert also das Ziel ihrer Politik selbst.
Und die Lohnpolitik?
Doch musste die EZB nicht durch eine Zinsanhebung der Lohnpolitik klipp und klar signalisieren, dass sie keine Lohn-Preis-Spirale als Folge der importierten Preisschübe akzeptieren würde? Nein, das musste sie nicht. Denn bereits in den Vor-Pandemie-Jahren, in denen es konjunkturell besser lief und Arbeitskräfte ähnlich verfügbar waren wie heute, gerieten die Löhne im Euroraum nicht aus der Spur. Die Macht der Arbeitnehmer in Europa ist bei weitem nicht so groß wie vielfach behauptet. Der angebliche Engpass bei Arbeitskräften hat bislang weder die Arbeitslosenquoten in Spanien und Griechenland unter die Zehn-Prozent-Marke zu drücken vermocht noch Frankreichs Arbeitsmarktmisere beendet: Mit über sieben Prozent ist in unserem Nachbarland die Arbeitslosenquote mehr als doppelt so hoch wie hierzulande. Gespräche zwischen der Zentralbank und den Tarifparteien der Euroländer sowie eine intensive Aufklärung der Öffentlichkeit über die Zusammenhänge hätten daher genügt, um ein Stillhalten der Geldpolitik gegen überbordende Lohnabschlüsse abzusichern.
Die Lohnpolitik hat namentlich in Deutschland getan, was sie konnte, um beim Abfedern des Energiepreisschocks zu helfen. Die abgeschlossenen Tarifverträge haben den unteren Lohngruppen überdurchschnittliche und den oberen Lohngruppen unterdurchschnittliche Lohnerhöhungen zukommen lassen. Wichtig war und ist, dass die Tarifabschlüsse in der Summe nicht den Versuch unternehmen, den Realeinkommensverlust an das Ausland wieder wettmachen zu wollen. Denn genau das würde zu einer Lohn-Preis-Spirale führen, die von der Geldpolitik tatsächlich bekämpft werden müsste.
Das haben die Tarifparteien in vielen EWU-Ländern verstanden und entsprechend vernünftig auf die schwierige Situation reagiert: Die Zuwachsrate der nominalen Arbeitskosten pro Stunde liegt im Euroraum laut Eurostat im zweiten Quartal 2023 bei 4,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal – nach 5,2 Prozent (1. Quartal 2023) und 5,9 Prozent (4. Quartal 2022), sie ist also rückläufig. Die vier großen Länder Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien kommen sogar auf nur ungefähr 3,7 Prozent im zweiten Quartal.
Wovor die EZB noch in früheren Pressekonferenzen zu ihren Zinsentscheidungen gewarnt hatte, nämlich eine Lohn-Preis-Spirale, ist demnach nicht eingetreten und wird von der EZB auch nicht erwartet: Sie hat ihre Prognose des Zuwachses des Arbeitsentgelts pro Beschäftigten im Euroraum für die kommenden beiden Jahre (4,3 Prozent und 3,8 Prozent) sogar leicht reduziert im Vergleich zu ihren Schätzungen vom Juni. Auch hier findet sich also kein stichhaltiger Grund für die nochmalige Zinsanhebung.
Und die Fiskalpolitik?
Die EZB widmet der Fiskalpolitik im Pressestatement zu ihrer jüngsten Zinsentscheidung einige Sätze. Im Abschnitt „Wirtschaftstätigkeit“ heißt es: „Mit dem Abklingen der Energiekrise sollten die Regierungen entsprechende Stützungsmaßnahmen weiter zurücknehmen. Dies ist entscheidend, um zu verhindern, dass sich der mittelfristige Inflationsdruck erhöht, was andernfalls eine noch stärkere geldpolitische Reaktion erforderlich machen würde.“
Die Zentralbank droht also den Regierungen, die gerade die Kartoffeln aus dem Feuer geholt, sprich: eine europaweite Rezession als Folge des Energiepreisschocks unter erschwerten Zinsbedingungen knapp verhindert haben (in Deutschland ist das nicht gelungen), mit noch stärkerer Restriktion, wenn sie den Gürtel nicht enger schnallen. Das ist schon deshalb merkwürdig, weil die EZB selbst in ihrer Projektion für 2024 von einem Wiederanziehen der Gas- und Strompreise ausgeht und unter anderem damit ihre aktuelle Zinsanhebung rechtfertigt, also das „Abklingen der Energiekrise“ relativiert.
Doch es kommt noch merkwürdiger: „Die Finanzpolitik sollte darauf ausgerichtet sein, die Produktivität unserer Wirtschaft zu steigern und die hohe öffentliche Verschuldung allmählich zu verringern.“
Man fragt sich, wie das gehen soll: Eine funktionierende moderne Infrastruktur ist für die Produktivität der Privatwirtschaft zentral. Eine zum Teil marode Infrastruktur wie in Deutschland lässt sich aber nicht zum Nulltarif sanieren. Hat die EZB also nur den berühmt-berüchtigten Abbau der Bürokratie im Sinn? Oder glaubt sie noch immer an das neoklassische Märchen, dass öffentliche Schulden den Kapitalmarkt leerfegen und damit private Investitionen verdrängen, ein Schuldenabbau also private Investitionen und damit die Produktivität fördern würde? In den Annahmen zu ihrer Prognose glaubt die EZB an diesen Nexus jedenfalls nicht, denn sonst könnte sie dort nicht eine inverse Zinsstruktur unterstellen (langfristige Zinsen unter den kurzfristigen). Was also stellen sich die Geldpolitiker, die dieses Statement konsentiert haben, unter einer Finanzpolitik, die die Produktivität der Wirtschaft erhöht, konkret vor?
Im nächsten Satz schreiben die Verantwortlichen: „Politische Maßnahmen zur Verbesserung der Angebotskapazitäten des Euroraums … können auf mittlere Sicht zu einer Verringerung des Preisdrucks beitragen. Gleichzeitig können sie den grünen Wandel unterstützen.“
Genau, und zu den einfachsten politischen Maßnahmen, die der Verbesserung der Angebotskapazitäten dienen, gehören günstige Zinsen. Die Führung der EZB täte gut daran, ihre eigenen Handlungsoptionen auszuschöpfen, bevor sie anderen Politikbereichen eine Quadratur des Kreises nahelegt.
Die selbst gebaute Zwickmühle der EZB
Leider steht zu befürchten, dass die EZB die Wirkung ihrer Zinspolitik auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der Eurozone unterschätzt. Spätestens wenn das prognostizierte Wiederanziehen der Konjunktur im Euroraum ab dem vierten Quartal 2023 ausbleibt oder sich die aktuelle Stagnation gar in eine Rezession verwandelt, muss die Zentralbank ihren Kurs ändern – selbst wenn die Verbraucherpreisrate immer noch nicht da gelandet ist, wo die Zentralbank sie haben will.
Und die EZB muss im Fall einer Rezession die Fiskalpolitik um erneute Unterstützung bitten, weil auch eine Zinssenkung einige Zeit benötigt, bis sie Wirkung in der Realwirtschaft entfalten kann. In der Zwischenzeit dürfte die Konjunktur nämlich Fahrt in die falsche Richtung aufnehmen, weil erst einmal die Wucht der bisherigen geldpolitischen Restriktion verkraftet werden muss – man denke nur an die Bauwirtschaft. Dann fällt den Währungshütern ihre Ermahnung der Regierungen auf die Füße.
Noch schwieriger wird die Lage, wenn parallel dazu das internationale Kartell der Ölanbieter eine Angebotsverknappung beschließt, wie das in den letzten Tagen bereits Russland und Saudi Arabien überraschend vereinbart haben. In ihrer September-Projektion geht die EZB von rückläufigen jahresdurchschnittlichen Ölpreisen pro Barrel aus: 82,7 US-$ (2023), 81,8 US-$ (2024) und 77,9 US-$ (2025). Aktuell liegt der Preis schon bei rund 90 US-$.
Käme es wieder zu deutlich anziehenden Preisen für fossile Rohstoffe, stünde Europa erneut ein gesamtwirtschaftlicher Preisschub bevor. Ein Verlust an Kaufkraft, der den privaten Konsum dämpfte, sinkende Auslastung sowie eine Umverteilung von Gewinnen hin zu den Ölexportländern als Ergebnis der verschlechterten terms of trade (das ist die Relation zwischen Export- und Importpreisen) führten in eine europaweite Rezession, die die Fiskalpolitik allein nur schwer abwenden könnte.
Wie würde die EZB auf einen weiteren importierten Preisschub reagieren? Mit weiteren Zinsanhebungen, weil – gemäß ihrer eigenen aktuellen Definition – dann ja noch mehr „Inflation“ herrschte? Das wäre konsequent in Hinblick auf die Logik ihrer bisherigen Argumentation. Aber eine geldpolitische Straffung trotz eines gesamtwirtschaftlichen Einbruchs in dem Währungsgebiet, für das sie die Verantwortung trägt, ist schwer vorstellbar.
Die EZB gerät dann in die Zwickmühle, die sie sich insbesondere mit der Begründung der jüngsten Zinsentscheidung selbst gebaut hat. Denn in der Pressemitteilung heißt es: „Die heutige Zinserhöhung spiegelt unsere Beurteilung der Inflationsaussichten vor dem Hintergrund der verfügbaren Wirtschafts- und Finanzdaten, der Entwicklung der zugrunde liegenden Inflation sowie der Stärke der geldpolitischen Transmission wider.“
Die geldpolitische Transmission schätzt die EZB wie oben bereits zitiert als stark ein. Die meisten der verfügbaren empirischen Indikatoren sind, wie die EZB selbst zugesteht, abwärtsgerichtet. Die Entwicklung der Kernrate (das ist die Steigerungsrate des Preisindex ohne Energie und Nahrungsmittel) prognostiziert die EZB schwächer als noch in ihrer Juni-Projektion. Nur die Energiepreise ziehen in der EZB-Prognose wieder etwas an. Aus all dem leiten die Geldpolitiker ab, dass der zugrundeliegende Preisdruck hoch sei, womit sie ihren Zinsschritt begründen. Sollten die Energiepreise noch mehr zunehmen als bislang erwartet, könnte das folglich in der Logik der EZB kein Grund sein, die Zinsen zu senken, sondern eher einer, sie zu steigern.
Hätten die Währungshüter die Entwicklung der Realwirtschaft in ihrem Begründungsbündel wenigstens expliziter erwähnt als nur mit dem dürren Wort „Wirtschaftsdaten“, könnten sie einen Kurswechsel bei unerwartet steigenden Energiepreisen halbwegs gesichtswahrend einleiten. So wie die Dinge aber jetzt liegen, würden sie bei den Bürgern an Glaubwürdigkeit verlieren, egal wie sie sich entscheiden: Bei Zinssenkungen würden sich die einen wundern, warum das das richtige Mittel bei einer Energiepreissteigerung sein soll, nachdem zuvor das Gegenteil praktiziert wurde. Bei einer Zinssteigerung in einer nicht von Lohnerhöhungen ausgelösten Rezession würden die anderen den Währungshütern jegliche Kompetenz absprechen.
Analytische Kompetenz von außen?
Leider tragen weite Teile der deutschen Fachwelt nicht dazu bei, der Führung der EZB durch eigene klare Argumentation mehr Konsistenz in den Überlegungen zu ihren Zinsentscheidungen und ihrer Kommunikation nach außen abzuverlangen. Neben den oben bereits zitierten zwei kritischen Stimmen, die sich in die analytische Sackgasse manövrieren, es bestünde eine Wahl zwischen Inflationsbekämpfung und Rezessionsvermeidung, soll hier auch der Präsident des ifo-Instituts Clemens Fuest zu Wort kommen, der ebenfalls zwischen Inflation und Rezession abwägt und die Entscheidung der EZB unterstützt. Er kommentierte so: „Die Zinserhöhung der EZB ist gut begründet. Die Inflation bleibt trotz der konjunkturellen Abkühlung hoch. Für das Jahr 2024 hat die EZB ihre Inflationsprognose erhöht, vor diesem Hintergrund ist die Zinserhöhung folgerichtig.“
Auch Fuest hält also eine Zinspolitik am Gängelband von Energiepreisen, noch dazu prognostizierter Energiepreise, für richtig. Denn die Erhöhung der Inflationsprognose durch die EZB beruht ja allein auf ihrer Annahme zur Energiepreisentwicklung. Das ist nebenbei bemerkt eine offene Flanke der europäischen Geldpolitik: Macht sie sich von der Preisentwicklung importierter Energie abhängig, werden die Leitzinsen womöglich mehr aus Riad und Moskau als aus Frankfurt gesteuert.
Weiter sagt Fuest: „Für Deutschland ist die Zinserhöhung angesichts der Schrumpfung der Wirtschaft schmerzhaft. Die EZB macht aber Geldpolitik nicht nur für Deutschland, sondern für den Euroraum insgesamt.“
Soll das heißen, dass die Geldpolitik anders ausfallen müsste, wenn die EZB nur für Deutschland zuständig wäre? Dass man also der EZB zugutehalten müsse, dass sie nicht auf die deutsche Konjunktur Rücksicht nehmen könne (die wenigstens einen Zinsstopp erforderte), sondern wegen der Situation in den anderen Mitgliedsländern der Eurozone zu einer weiteren Zinsanhebung quasi gezwungen gewesen sei? Deutschland müsste also nach dieser Lesart eine Straffung der Geldpolitik ertragen, weil sie zwar nicht zur eigenen Situation, sehr wohl aber zu der des Rests der Union passte?
Wenn das ein logisches Argument sein soll, müssten die Preissteigerungsraten in den anderen EWU-Ländern höher sein als in Deutschland. Denn die deutsche Rate bietet – so muss man Fuests Kommentar verstehen – offenbar keinen Anlass zu weiterer Restriktion, jedenfalls nicht in Kombination mit der hierzulande schrumpfenden Wirtschaft.
Nun verhält es sich mit den aktuellen Preissteigerungsraten aber genau anders herum. Der Verbraucherpreisindex vom August ist nur in Österreich (7,6 Prozent), der Slowakei (9,6 Prozent) und Kroatien (8,5 Prozent) stärker gestiegen als in Deutschland (6,4 Prozent). Alle anderen EWU-Mitgliedsländer, die immerhin zwei Drittel der Wirtschaftskraft der Eurozone auf sich vereinigen, liegen unter dem deutschen Wert (z.B. Frankreich mit 5,7 Prozent, Italien mit 5,5 Prozent oder Spanien mit 2,4 Prozent).
Daher könnten – konträr zu Fuests Aussage – vielmehr die 16 übrigen EWU-Staaten, allen voran Spanien, über die Zinspolitik der EZB stöhnen, die sie leider wegen Deutschland, Österreich, der Slowakei und Kroatien zu ertragen hätten.
Oder geht es darum, dass Länder, die noch Wachstum verzeichnen, zum Erreichen des Inflationsziels der EZB, das sich auf den Durchschnitt der Eurozone bezieht, mehr beitragen müssen als solche, die schon in eine Rezession gerutscht sind? Wie sollte das funktionieren? Wenn in keinem der anderen 16 EWU-Länder die Wirtschaft derzeit schrumpft, sie aber niedrigere Preissteigerungsraten haben als Deutschland, kann eine Straffung der Geldpolitik in diesen Ländern keine große Entlastung für die durchschnittliche Preissteigerungsrate bringen, die Länder jedoch ebenfalls in die Rezession treiben.
Wie man es auch dreht und wendet, Fuests Begründung für seine Zustimmung zum aktuellen Zinsentscheid ist analytisch nicht nachvollziehbar. Bei genauem Betrachten der Empirie lässt sich etwas ganz anderes feststellen: Die aktuell gemessenen nationalen Preissteigerungsraten haben wenig mit der aktuellen nationalen Konjunktur zu tun, jedoch viel mit den internationalen Rohstoffmärkten und den nationalen Wirtschaftsstrukturen.
Eine weitgehend konjunkturunabhängige, aber unerwünscht hohe Steigerungsrate der Verbraucherpreise kann von keiner Geldpolitik sinnvoll bekämpft werden. Das zu erkennen und zu kommunizieren wäre die Aufgabe der Ökonomen in Deutschland, die im Sachverständigenrat sitzen, ein Wirtschaftsforschungsinstitut leiten oder einen universitären Lehrstuhl für Makroökonomie bekleiden.
Fazit
Die EZB verhindert durch den für alle EWU-Staaten gleichen Zinshammer nur, dass die Marktwirtschaft das leistet, was wir dringend brauchen und was sie im Vergleich zu allen bekannten Systemen am besten leisten kann, wenn man sie mit Sinn und Verstand führt: eine Anpassung an Engpässe, seien sie klimatechnischer, rohstoffbedingter, demografischer oder sonstiger Art. Investitionen sind das entscheidende Instrument für Anpassung. Beschädigt die Geldpolitik dieses Instrument, behindert sie selbst – so paradox das klingt – die Beseitigung der wichtigsten gegenwärtigen Ursache der unerwünscht hohen Preissteigerungsrate. Das soziale Mäntelchen, das sie ihrer Politik umzuhängen versucht, entpuppt sich mehr als Schafspelz für monetaristische Wölfe.
Brillantes Gedankenexperiment Frau Spieker!