Dieser Artikel ist am 30. Juli 2023 bei Telepolis erschienen (telepolis.de)
Menschen mit niedrigen Einkommen müssen einen erheblich höheren Anteil ihres Einkommens für den Grundbedarf aufwenden als Besserverdienende. So machten in Deutschland im Jahr 2021 bei Haushalten mit einem monatlichen Nettoeinkommen von unter 1.250 Euro die Ausgaben für Nahrungsmittel fast ein Fünftel ihrer gesamten Konsumausgaben aus. In der Gruppe der Haushalte mit mindestens 5.000 Euro monatlichem Nettoeinkommen lag dieser Anteil bei weniger als einem Siebtel – und das bei einer wesentlich höheren Sparquote. Noch größer sind die Anteilsunterschiede bei den Ausgaben zwischen Arm und Reich im Bereich Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung. Auf ihn entfielen bei der untersten Einkommensgruppe der Haushalte 2021 – also noch vor der Energiepreiskrise – die Hälfte ihrer Ausgaben, bei der reichsten Gruppe weniger als ein Drittel.
Ärmere Haushalte sind deshalb von steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen härter betroffen als reichere.
Umso wichtiger ist es, die Ursachen für die starken Preissteigerungen der letzten beiden Jahre zu untersuchen und sie, wenn möglich, abzustellen oder für eine Veränderung der Einkommensverteilung zugunsten der Ärmeren zu sorgen.
Preisentwicklung im Überblick
Schaut man die Entwicklung der Preise zum Beispiel für Brot über einen langen Zeitraum an (Abbildung 1), kann festgestellt werden, dass die Erzeugerpreise (die blaue Linie) immer schon größere Schwankungen aufwiesen als die Verbraucherpreise (die orange Linie): So nahm der Erzeugerpreis für Brotweizen im Zuge der Rohstoffpreishausse der 2000er-Jahre zwischen August 2005 und März 2008, also innerhalb von nur 32 Monaten oder weniger als drei Jahren, um fast das Zweifache zu.
Anschließend halbierte er sich in 9 Monaten und erreichte nach eineinhalb Jahren sogar wieder für kurze Zeit sein altes Niveau. Von da an ging es erneut rasant auf- und wieder abwärts, mit Spitzenwerten ähnlich wie 2008, bevor von 2014 bis 2021 eine ruhigere Phase folgte.
Die Verbraucherpreise für Brot und Getreideerzeugnisse bewegten sich hingegen relativ ruhig: Auf die Explosion der Erzeugerpreise bis zur Finanzkrise reagierten sie erst ab Sommer 2007 ein Jahr lang, und zwar mit einem Zuwachs von insgesamt gut 8 Prozent, hielten dieses Niveau in den folgenden drei Jahren und verzeichneten anschließend – offenbar wieder in Reaktion auf die Peaks der Erzeugerpreise – moderate Anstiege.
Abbildung 1
Ganz Ähnliches ereignete sich in den vergangenen zwei Jahren (für die zusätzlich auch detaillierteres Datenmaterial z.B. für Mehl vorliegt, die ab 2015 eingezeichnete rote Linie in Abbildung 1). Allerdings ist das Tempo des Erzeugerpreisanstiegs zwischen Dezember 2020 und dem Höhepunkt der Rallye im Mai 2022 noch höher als damals und ebenso die Geschwindigkeit, mit der die Preise inzwischen wieder eingebrochen sind.
Auf der Verbraucherebene ist es dieses Mal zu einer deutlich stärkeren Reaktion gekommen als Mitte der 2000er-Jahre: Seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 bis heute haben sich die Preise für Mehl und die für Brot um rund ein Drittel erhöht.
Was die Schwankungen der Erzeugerpreise verursacht
Doch was verbirgt sich hinter den großen Schwankungen der Erzeugerpreise? Dass der Klimawandel die Ernten in der landwirtschaftlichen Produktion langfristig verschlechtern wird, ist trotz der guten Resultate der letzten Jahre sehr wahrscheinlich. Blockaden der Transportwege über das Schwarze Meer und die Vernichtung ukrainischer Getreidevorräte, die für den Export bestimmt waren, tragen zur weltweiten Angebotsverknappung bei.
Die Zunahme der Weltbevölkerung sorgt ihrerseits für einen Anstieg der Nachfrage. Das alles lässt Preiszuwächse erwarten. Eine Verknappung bzw. Verteuerung von Düngemitteln durch die westlichen Sanktionen gegen Russland treibt die Kosten auf der Erzeugerstufe in die Höhe. Das spricht ebenfalls für Preisanstiege. Doch das erklärt nicht das extreme Auf und Ab bei den Preisen, wie es empirisch zu beobachten ist.
Vergleicht man die monatlichen Erzeugerpreise für Brotweizen, wie sie das Statistische Bundesamt ermittelt, mit den aus Tageskursen berechneten Monatsdurchschnitten der Börsenhandelspreise für Weizen, ergibt sich eine starke Übereinstimmung (die blaue und die rosafarbene Linie in Abbildung 2).
Es gibt keine Gründe für starke Schwankungen bei der realen Nachfrage nach Weizen – die Menschen essen nicht schlagartig sehr viel mehr oder sehr viel weniger Brot. Daher können die Preisturbulenzen also nicht stammen. Allerdings ließen Befürchtungen einer mengenmäßigen Verknappung des Weizenangebots aufgrund des Kriegs gegen die Ukraine stark steigende Erzeugerpreise erwarten.
Einfluss der Spekulanten
Ein klar erkennbarer exogener Anlass für die Bildung von Erwartungen öffnet Spekulationen Tür und Tor. Und so stiegen offenbar viele Finanzmarktakteure in das Weizengeschäft ein und sorgten für eine Preisblase – die Börsenpreise schossen zwischen dem 23. Februar und dem 7. März 2022 um fast 50 Prozent in die Höhe.
Die Blase platzte dann teilweise, als im Juli 2022 ein Abkommen zwischen Russland und der Ukraine unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei den Export von Getreide aus drei ukrainischen Häfen über das Schwarze Meer wieder ermöglichte – die Preise brachen innerhalb von drei Wochen um fast 20 Prozent ein.
Es spricht daher alles dafür, dass nicht die Erzeugerpreise die Börsenkurse bestimmen, sondern umgekehrt die Börsenkurse die Erzeugerpreise. Reale Anlässe verändern die realwirtschaftlichen Knappheiten tatsächlich. Aber die Finanzmarktakteure potenzieren diese Knappheiten durch ihr Nachfrageverhalten und treiben so die Preisentwicklung an.
Abbildung 2
Die Dominanz der Finanzmärkte über die realwirtschaftlichen Märkte lässt sich auch anhand weiterer Daten für andere Rohstoffe belegen, die nicht im Verdacht stehen, den gleichen realwirtschaftlichen Engpässen und Risiken ausgesetzt zu sein wie Weizen.
In Abbildung 3 sind die Börsenkurse eines Energierohstoffs (Öl), eines Metallrohstoffs (Nickel), eines Genussmittelrohstoffs (Kaffee) und des bereits gezeigten Nahrungsmittelrohstoffs Weizen wiedergegeben. Alle Kurse zeigen ähnliche und extreme Entwicklungen zwischen 2021 und heute. Die hohe Korrelation zwischen so unterschiedlichen Rohstoffen ist ein guter Beleg dafür, dass nicht tatsächliche realwirtschaftliche Knappheitsverhältnisse den Großteil der Preisbewegungen bestimmen, sondern auf spekulativen Motiven beruhende Nachfrage.
Abbildung 3
(Bild: finanzen.net (Screenshot))
Folgen der Spekulation in Europa zu spüren
Da wegen der niemals ernsthaft zurückgeschraubten Liberalisierung der Finanzmärkte in den 2000er-Jahren der Handel mit Rohstoffen als Finanzanlageobjekte bis heute ein Betätigungsfeld für große Vermögensfonds ebenso wie für Kleinanleger ist, schwanken eben diese Börsenkurse parallel zu den Ereignissen, die Spekulanten in die entsprechenden Märkte locken oder wieder die Flucht ergreifen lassen. Das Ergebnis dieses spekulativen Treibens auf den Finanzmärkten, das schon seit vielen Jahren in anderen Teilen der Welt Katastrophen angerichtet hat, ist nun auch in Europa angekommen.
Die realwirtschaftlich tätigen Unternehmen, die die Rohstoffe in der Produktion benötigen (z. B. die Bäckereien), müssen die starken Preisanstiege eines Tages an die Verbraucher durchreichen (vgl. die rote Linie in Abbildung 2), um dauerhafte Verluste zu vermeiden. Sinken die Rohstoff-Börsenpreise und mit ihnen die Erzeugerpreise schließlich wieder, passen die Unternehmen, die die Rohstoffe als Vorleistungen in ihrer Produktion verwenden, ihre Angebotspreise offenbar nicht sofort wieder nach unten an. Es kommt lediglich zu einem Stopp der Preissteigerungen.
Die Unternehmen sind möglicherweise misstrauisch, von welcher Dauer die Rohstoffpreisnachlässe sein werden; sie müssen eventuell durch die Rohstoffpreisblase zuvor aufgelaufene Verluste zunächst wieder wettmachen. Erst wenn der Wettbewerb die Unternehmen einer Branche allmählich zwingt, ihre Kunden an rückläufigen Rohstoffpreisen teilhaben zu lassen, kommt es auch auf der Verbraucherstufe zu Preissenkungen. Das bedeutet, dass die Verbraucher, namentlich die Leute mit den schmalen Geldbeuteln, zwischenzeitlich die Zeche für die Spekulanten zahlen.
Eine Geldpolitik, die auf primär spekulationsgetriebene Preisschübe mit Zinsanhebungen reagiert, ändert an dem zugrundeliegenden Missstand der Spekulation nichts und schadet allen in der Realwirtschaft Tätigen – bis zu den Geringverdienenden. Denn hohe Zinsen treffen die Sachinvestitionstätigkeit, von der die Beschäftigungslage und die Realeinkommensentwicklung wesentlich abhängen – vom ökologisch dringend notwendigen Umbau unserer Produktions- und Konsumstrukturen einmal ganz abgesehen. Obendrein bietet die straffe Geldpolitik den Spekulanten für ihre erbeuteten Gewinne sichere Zinshäfen bei Staatsanleihen.
Was die Politik tun müsste
Spätestens jetzt muss die Politik – auch international koordiniert – Spekulationsmöglichkeiten eindämmen, indem z. B. nur registrierte Rohstoffhändler, die über die Handelsware physisch verfügen, an den Märkten zugelassen werden, nicht aber etwa Vermögensfonds. Registrierte Versicherungsunternehmen, die eine große Bandbreite von Rohstoffen absichern und daher bei exogenen Schocks keine Rosinenpickerei betreiben können, sind hingegen unproblematische und willkommene Marktteilnehmer.
Transaktionssteuern könnten helfen, die Attraktivität ultra-kurzfristiger Handelsgeschäfte zu senken und so mehr Ruhe in die Märkte zu bringen. Mit anderen Worten: Es gibt institutionelle Möglichkeiten, der Finanzialisierung von Märkten Einhalt zu gebieten.
Doch das geht nicht von allein: Man muss es den Menschen erklären, um politische Mehrheiten für Regulierungen zu organisieren. Und man muss sich im Zweifel mit der Elite der Finanzwirtschaft anlegen. Und wer zurecht darauf hinweist, dass eine entsprechende Gesetzgebung einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte, den ärmeren Bevölkerungsschichten aber kurzfristig geholfen werden muss, der sollte sich u. a. für eine Mindestlohnsteigerung einsetzen, die über die beschlossenen 41 Cent hinausgeht.
Allen in dieser Gesellschaft und allen voran den politisch Verantwortlichen sollte bewusst sein, dass es sich bei der Frage, ob man die Finanzierung seines Grundbedarfs durch eigene Arbeit bewerkstelligen kann oder nicht, um eine zentrale Bedingung für das Funktionieren unserer sozialen Marktwirtschaft handelt. Man kann es auch noch drastischer ausdrücken: An dieser Frage entscheidet sich die politische Stabilität und der gesellschaftliche Zusammenhalt in unserem Land.