Mindestlohn: Warum die Erhöhung im Cent-Bereich die Gesellschaft spaltet

Dieser Artikel ist am Donnerstag, den 29.6.2023 bei Telepolis erschienen.

Der gesetzliche Mindestlohn soll ab 2024 um 41 Cent steigen. Das hat die Mehrheit der Mindestlohn-Kommission am Montag gegen die Stimmen der Gewerkschaftsvertreter beschlossen. Die Lohnuntergrenze steigt damit auf 12,41 Euro pro Arbeitsstunde. Ein Jahr später soll sie dann auf 12,82 steigen. Das sind 3,4 Prozent bzw. 3,3 Prozent mehr gegenüber dem jeweiligen Vorjahreswert.

Für alle, die im Niedriglohnbereich arbeiten, ist diese minimale Erhöhung eine bittere Nachricht. Denn mindestens die Hälfte dieser Erwerbstätigen, schätzungsweise vier Millionen, sind nicht durch Tarifverträge abgesichert.

Sie haben also nichts von den 2023 neu abgeschlossenen Tarifverträgen, in denen der Schutz der unteren Lohngruppen gegen die Preisschübe der letzten beiden Jahre durch überdurchschnittliche Lohnsteigerungen im Vergleich zu den oberen Lohngruppen im Vordergrund steht. Die Gewerkschaften haben in den neuen Tarifverträgen den Spagat zu bewältigen versucht, einerseits keine Lohn-Preis-Spirale loszutreten, andererseits die Realeinkommensverluste in den unteren Lohngruppen durch absolute Lohnzuwächse so gering wie möglich zu halten. Es findet also eine Stauchung der Lohnstruktur im tarifgebundenen Lohnbereich zugunsten der Niedriglohngruppen statt.

Empfänger des Mindestlohns nicht gegen Preisschübe geschützt

Nicht so beim Mindestlohn. Der Schutzgedanke für die in unserem Land am schlechtesten Verdienenden spielt im Beschluss der Kommission keine Rolle.

Niedriglöhne sind Löhne bis maximal 60 Prozent des mittleren Lohns. Diese Grenze lag im April 2022 bei 12,50 Euro pro Stunde und dürfte aktuell bereits einen höheren Wert haben. Die jetzt beschlossene Erhöhung des Mindestlohns kommt bis Ende 2024 nicht einmal an diese Grenze heran. Das steht auch in Widerspruch zu einer EU-Richtlinie, die bis Ende 2024 umgesetzt werden muss und in der empfohlen wird, die Niedriglohngrenze als Maßstab für eine angemessene Mindestlohnhöhe zu verwenden.

Der 2020 von der Mindestlohnkommission festgelegte letzte Zuwachs des Mindestlohns auf 10,45 Euro galt ab Juli 2022. Der Bundestag beschloss per Änderung des Mindestlohngesetzes eine nochmalige Anhebung auf 12 Euro ab Oktober 2022. Das sollte dafür sorgen, dass Vollzeit-Erwerbstätige in der untersten Lohngruppe von ihrer Hände Arbeit leben können und vor Armut geschützt sind, ohne dass der Staat ihre Einkommen subventionieren muss.

Schon vor den Preisschüben der letzten zwei Jahre blieb einer zu Mindestlohnbedingungen beschäftigten Vollzeit-Arbeitskraft nach Warmmiete und Fahrtkosten zum Arbeitsplatz nicht viel für den privaten Verbrauch übrig. Seither hat sich die finanzielle Lage für Millionen Beschäftigte verschärft.

Kommissionsvorsitzende glaubt,  Mittelweg gefunden zu haben

Die Mindestlohnkommission hat versucht, eine Art Mittelweg zu finden: Einerseits wollte sie die Entscheidung des Gesetzgebers offensichtlich nicht völlig ignorieren. Denn dann hätte sie keine Erhöhung, sondern sogar eine Senkung des Mindestlohns beschließen müssen, da seine bisherige Steigerungsrate weit über der durchschnittlichen Tariflohnentwicklung liegt, wenn man den Sprung auf 12 Euro berücksichtigt.

Andererseits wollte sie das von der Politik gesetzte 12-Euro-Niveau nicht als Ausgangsbasis für ihren aktuellen Beschluss akzeptieren. Deshalb hat sie die Zuwachsrate, die sie für passend zur bisherigen Tariflohnentwicklung hielt, auf die alte, von ihr selbst beschlossene Basis angewendet.

Die Vorsitzende der Kommission, eine Juristin, deren Stimme in einer Patt-Situation zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerlager ausschlaggebend ist, hat das offenbar für einen fairen Kompromiss gehalten.

Leider hat sie zwei wichtige Punkte nicht beachtet: Das außerplanmäßige Heraufsetzen des Mindestlohns auf 12 Euro hatte nichts mit dem gesetzlichen Regelwerk zu tun, auf das die Kommission ihre Entscheidungen stützt. Daher war der Versuch, diesen Sprung im Nachhinein irgendwie in dieses Regelwerk hineinzupressen oder mit ihm abzugleichen, von vornherein sinnlos. Er hat keineswegs dazu geführt, dem jetzt gefundenen Ergebnis den Anschein der Objektivität und Regelbasiertheit zu verleihen.

Absage an die bisherige tarifpolitische Vernunft der Gewerkschaften

Noch wichtiger aber ist, dass die Vorsitzende dem Bemühen der Gewerkschaften nicht Rechnung getragen hat, durch die jüngsten Tarifabschlüsse das gesellschaftliche Problem konstruktiv zu lösen, das mit den Preisschüben im Bereich von Nahrungsmitteln und Energie ganz unmittelbar und am stärksten für die unteren Lohngruppen entstanden ist.

Ein echter Kompromiss zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite hätte die starke Lohnstauchung nicht unter den Tisch fallen lassen dürfen, zu der sich die Gewerkschaften im tariflichen Bereich durchgerungen haben, obwohl das zu Lasten der höheren Lohngruppen ging.

Stattdessen hätte die Vorsitzende die durchschnittliche Erhöhung in den untersten Tarifgruppen als Ausgangspunkt ihrer Kompromiss-Suche verwenden, also von etwa zehn Prozent im ersten und dann noch einmal vier Prozent im zweiten Jahr ausgehen müssen. Dann wäre ein neuer Mindestlohn bis 2025 eher in der Größenordnung von 13,50 Euro herausgekommen.

Zwar heißt es im Mindestlohngesetz: „Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung.“ Aber erstens lässt das Wort „Orientierung“ Spielraum für adäquate Lösungen zu, zweitens steht dort nichts von durchschnittlicher Tarifsteigerung, an der sich zu orientieren sei, und drittens umfasst die Tarifentwicklung auch die Veränderung der Lohnstruktur.

Ohnehin ist bei exogenen Schocks, die zu so unvorhersehbaren und extremen Preisentwicklungen führen, eine „nachlaufende“, auf zwei Jahre ausgelegte Anpassung problematisch. Die Menschen müssen nämlich hier und heute mit den Preisschüben zurechtkommen und nicht irgendwann im Nachhinein. Diesen sozialen Sprengstoff zu ignorieren, führt nur zur Verbitterung und Wahlergebnissen, deren Folgen die Oberschicht fürchten sollte.

Ging es um den Schutz von Arbeitsplätzen?

Doch die Befürworter der jetzigen Entscheidung argumentieren mit einer Gesamtabwägung, zu der laut Mindestlohngesetz auch die Wirkung des Mindestlohns auf die Beschäftigung zählt. Würde eine stärkere als die beschlossene Erhöhung des Mindestlohns in der gegenwärtigen, gesamtwirtschaftlich schwierigen Situation die Arbeitsplätze von Geringverdienenden gefährden?

Dass die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 und seine kontinuierliche Erhöhung keine Arbeitsplätze im unteren Lohnsegment vernichtet habe, sei „[v]or dem Hintergrund der positiven wirtschaftlichen Entwicklung in den Jahren 2015 bis 2019“ zu sehen, schreibt die Kommission in dem ergänzenden Bericht unter Ziffer 4, dem auch die Gewerkschaftsvertreter zugestimmt haben.

„Die Mindestlohnforschung muss auf Basis vorhandener Daten die Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns auf [… die] Beschäftigung (…) von weiteren Einflussfaktoren (…) wie der Konjunktur (…) isolieren“ (Ziffer 5). Dass der Mindestlohn selbst die Konjunktur stabilisiert und damit dazu beigetragen haben könnte, dass es zu keinen Arbeitsplatzverlusten kam, wird durch diesen Forschungsansatz von vornherein ignoriert. Warum die Gewerkschaften ihn mittragen, bleibt ihr Geheimnis.

Die Kommission gesteht in der Begründung zu ihrem Beschluss 2023 zu, dass der Mindestlohn auch bis Anfang 2022 „[a]uf die Arbeitslosigkeit (…) bisher keine Auswirkungen [hatte]“ und es „den Betrieben bisher ganz überwiegend gelungen ist, sich an das höhere Lohnkostenniveau anzupassen (…)“.

Das müsste wegen der konjunkturell extrem turbulenten Zeiten von Anfang 2020 bis Anfang 2022 für all diejenigen ein erstaunliches Ergebnis sein, die den Mindestlohn ohne konjunkturellen Rückenwind für einen Jobkiller halten.

Es geht um Gewinne und Macht

Doch die Mehrheit der Kommission zeigt sich von den selbst zitierten Forschungsergebnissen unbeeindruckt, auch wenn sie das nicht explizit sagt und nur recht allgemein auf die schwierige wirtschaftliche Lage verweist. Der Glaube, gesamtwirtschaftlich verhalte sich die Nachfrage nach Arbeitskräften wie die Nachfrage auf einem Kartoffelmarkt und müsse daher bei steigendem Preis, sprich: Lohn, zurückgehen, ist einfach fest verankert. Eine gesamtwirtschaftlich stabilisierende Wirkung kann dem Mindestlohn nicht zugestanden werden, das widerspräche dem neoliberalen Credo.

Dass das die Ansicht der Arbeitgeber ist, versteht sich von selbst. Denn jeder Cent mehr, der den zu Mindestlohnbedingungen Arbeitenden gezahlt werden muss, geht vornehmlich zu Lasten der Stückgewinne. Dass sich aber die Vorsitzende der Kommission dieser Auffassung offenbar nicht entgegengestellt hat, zeigt, wie überflüssig dieses Gremium ist, in dem sich die Tarifparteien gegenübersitzen und eine in Sachen Makroökonomik nicht ausgebildete Juristin das Zünglein an der Waage spielen muss.

Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, hat das in einem Interview des Deutschlandfunks am 27.06.2023 auf den Punkt gebracht:

Der (…) gesetzliche Mindestlohn ist (…) nur dann notwendig, wenn die Tarifparteien (…) nicht in der Lage sind, Tarife abzuschließen, wo alle Menschen einen auskömmlichen Lohn erhalten. (…) Wenn man jetzt die gleichen Parteien, die es offensichtlich nicht schaffen, für alle diese auskömmlichen Löhne zu verhandeln, hinsetzt und sagt, jetzt verhandelt ihr den Mindestlohn, dann ist das die Quadratur des Kreises.

Wir arbeiten, um zu leben, und nicht umgekehrt. Wenn die soziale Marktwirtschaft in Deutschland nicht so betrieben wird, dass dieser Grundsatz für alle Erwerbstätigen gilt, verliert dieses Wirtschaftssystem nicht nur in den Augen derjenigen, die sich trotz Vollzeiterwerbstätigkeit im viertreichsten Land der Erde kaum mehr als das Lebensnotwendige leisten können, seine Daseinsberechtigung. Es destabilisiert dann obendrein unsere Demokratie.


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2 Gedanken zu „Mindestlohn: Warum die Erhöhung im Cent-Bereich die Gesellschaft spaltet“

  1. Sehr geehrte Frau Spiecker,

    Ihre zwei Artikel zum Thema Mindestlohnerhöhung haben mir in dieser sensationellen Klarheit in der Formulierung und der Sachstandsvermittlung das Wochenende gerettet. Vielen Dank für Ihre unermüdlich kritische Berichterstattung und Ihnen ein schönes Wochenende.

    Mit freundlichem Gruß
    Thomas Wiedemann

  2. Vielen Dank für diese klare und sorgfältige Kritik. Sie schreiben „Diesen sozialen Sprengstoff zu ignorieren, führt nur zur Verbitterung und Wahlergebnissen, deren Folgen die Oberschicht fürchten sollte.“ Und „[das Wirtschaftsssytem] destabilisiert dann obendrein unsere Demokratie.“

    Es ist eine interessante Frage in der Politikwissenschaft, ob und wann die Oberschicht Wohlstand teilt, um politische Stabilität zu erreichen. Peter Turchin hat sich intensiv damit beschäftigt, in einem Forschungszweig, den er Cliodynamik nennt https://peterturchin.com . Seinen Daten zufolge sind die zwei Hauptfaktoren 1) das Ausmaß der materiellen Ungleichheit und 2) der Überschuss von Mitgliedern der Oberschicht im Verhältnis zu den Machtpositionen, die ein politisches System bereitstellt.

    Sein Modell passt meiner Meinung gut auf die AfD. Er bespricht aber eine ganze Reihe von Gesellschaften und Zeitaltern, nicht nur unsere.

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