Das Mindestlohn-Debakel

Die Pressekonferenz der Mindestlohnkommission am 26. Juni 2023 hat einen tiefen Einblick in die Misere ermöglicht, in der sich die Arbeitnehmervertreter in diesem Gremium befinden. Der Beschluss über die Erhöhung des Mindestlohns wurde zum ersten Mal seit Bestehen der Kommission nicht einstimmig getroffen. Die drei Gewerkschaftsvertreter wurden von den drei Arbeitgebervertretern zusammen mit der Kommissionsvorsitzenden überstimmt, nachdem man sich in einer über zwölfstündigen Sitzung bis in die frühen Morgenstunden nicht hatte einigen können.

Zum Beschluss der Mindestlohnkommission habe ich am Donnerstag auf telepolis.de bereits einen Beitrag veröffentlicht, der jetzt auch auf dieser Seite verfügbar ist. In diesem neuen Beitrag geht es um eine ausführlichere Betrachtung, wie es zu diesem desaströsen Ergebnis kommen konnte.

Im Verlauf der Pressekonferenz wurde außer den beiden konkreten Beträgen 12,41 Euro und 12,82 Euro, auf die der Mindestlohn in den kommenden zwei Jahren jeweils ab Januar steigen soll, eine Reihe von Zuwachsraten genannt, die sich offenbar aus verschiedenen Berechnungsweisen, Daten und zugrunde gelegten Zeiträumen ergeben. Diese zusätzlichen Angaben sollten wohl die Objektivität und die Bemühungen um eine Kompromissfindung verdeutlichen, vermittelten aber vorrangig einen Eindruck von Beliebigkeit der am Ende zustande gekommenen Euro-Beträge.

Zahlenhuberei: Datenbasis unklar, Berechnungsmethode variabel …

So standen der Öffentlichkeit auch drei Tage nach der Pressekonferenz die Daten zum Tariflohnindex, die das Statistische Bundesamt veröffentlicht, nur bis Mai 2023 zur Verfügung – die Kommission verwendete aber laut eigener Aussage Daten, die bis Juni 2023 reichen. Und zwar bezifferte die Kommissionsvorsitzende (Minute 1:50 im Video) die Veränderung des Tariflohnindex einschließlich Sonderzahlungen von Juni 2022 bis Juni 2023 auf 7,8 Prozent. Inzwischen (30. Juni 2023) sind die Werte veröffentlicht worden, und die Rate von Juni 2022 bis Juni 2023 beträgt laut Statistischem Bundesamt 8,0 Prozent.

Der Kompromissvorschlag der Vorsitzenden ist von der bisherigen Praxis, den Tariflohnindex ohne Sonderzahlungen heranzuziehen, abgewichen. Die Begründung dafür lautete (ab Minute 2:24), „um den besonderen Umständen Rechnung zu tragen“. Die Berechnung der neuen Mindestlohnwerte erfolgte so: Die (vorab geschätzte?) Zuwachsrate des Index von 7,8 Prozent wurde auf die veraltete Ausgangsbasis des Mindestlohns vom Juli 2022, also auf 10,45 Euro, aufgeschlagen, was 11,27 Euro ergibt; diesem Wert wurde die Differenz zwischen der alten und der aktuellen Mindestlohnhöhe von 12,00 Euro, also 1,55 Euro, hinzugefügt, was gerundet zu 12,82 Euro führt. Der so berechnete absolute Zuwachs von 82 Cent wurde dann – ohne weitere Begründung – auf zwei Jahre verteilt. (Mit der jetzt bekannt gewordenen Zuwachsrate von 8,0 Prozent hätten sich 12,84 Euro ergeben.)

Die Arbeitgeberseite, auf der Pressekonferenz vertreten durch Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), reklamierte für sich, sie sei der Arbeitnehmerseite mit der Akzeptanz dieses Kompromissvorschlags von Seiten der Kommissionsvorsitzenden entgegengekommen, denn ihr ursprünglicher Standpunkt sei der folgende gewesen: Seit Oktober 2022 sei der Tariflohnindex (gemeint war wohl ohne Sonderzahlungen) bis Juni 2023 um 2,3 Prozent gestiegen (Minute 21:55). Aufsetzend auf dem aktuellen Mindestlohn von 12,00 Euro hätte dieser Zuwachs zu einem Wert von 12,25 Euro geführt und sei auch für die Vorsitzende nicht zustimmungsfähig gewesen. (Rechnet man genau nach, ergeben sich aus den Angaben von Kampeter übrigens 12,28 Euro.)

Zweifel an der suggerierten Kompromissbereitschaft der Arbeitgeberseite kamen u.a. zum Ausdruck, als sich ein Journalist bei Steffen Kampeter erkundigte, ob er angesichts der für die AfD erfolgreichen Landratswahl in Sonneberg am Vortag, die auch mit wirtschaftlichen Verhältnisse zu erklären sei, tatsächlich glaube, die Arbeitgeberseite sei mit der Erhöhung um 41 Cent ihrer „staatspolitischen Verantwortung“ gerecht geworden, wie Kampeter in seinem Eingangsstatement ausgeführt hatte. Kampeter entgegnete (Minute 21:35), er argumentiere mit dem gesetzlichen Auftrag der Mindestlohnkommission, die Entwicklung des Tariflohns im Mindestlohn abzubilden. „Das genau haben wir gemacht mit rund 5,1 Prozent. Man kann das jetzt vorwärts rückwärts rechnen. Aber ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass Sie Maßstäbe wählen, die auch einer Überprüfung durch Dritte eine Rolle spielen.“ Tatsächlich sind diese 5,1 Prozent so wenig objektiv nachvollziehbar wie die 12,25 Euro, von denen Kampeter wenige Sekunden danach spricht. Hier werden Zahlen in den Raum geworfen, die niemand in der Pressekonferenz so schnell gegenrechnen kann. Nein, einer Überprüfung halten die von Steffen Kampeter angeführten Zahlen nicht stand.

… Ergebnis beliebig

Wie man es auch dreht und wendet, die Mehrheit der Kommission kann auch bei den 12,41 Euro und den 12,82 Euro nicht wie behauptet für sich in Anspruch nehmen, einen anhand objektiver Maßstäbe nachvollziehbaren Kompromiss vorgelegt zu haben. Denn wieso wird der absolute Zuwachs aus einer nachlaufenden einjährigen Steigerungsrate auf zwei zukünftige Jahre verteilt? Wieso rechtfertigen die angeführten „besonderen Umstände“ – nämlich ein Pandemieschock und ein seit fünf Jahrzehnten nicht mehr vorgekommener, im Wesentlichen importierter Preisschub – zwar eine Einbeziehung von Lohnsonderzahlungen, nicht aber, die vom Bundestag gesetzlich festgelegte Mindestlohnhöhe von 12 Euro als Ausgangsbasis jeglicher Berechnungen zu verwenden? Wieso wird die deutliche Stauchung der Lohnstruktur zugunsten der unteren Lohngruppen als zentraler Teil der gegenwärtigen Tarifentwicklung ignoriert, die doch im Mindestlohn abgebildet werden soll? Denn es hat bei den Tarifabschlüssen der letzten 12 Monate in vielen Fällen eine Stauchung gegeben, also stärkere Lohnerhöhungen für die weniger gut Verdienenden als für die Bezieher hoher Stundenlöhne.

Mindestschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeutet kein Armutsschutz?

Da die Kommissionsvorsitzende, die Juristin Christiane Schönefeld, die ausschlaggebende Stimme bei der Beschlussfassung hatte, ist von besonderem Interesse, was sie zu der in § 9 Abs. 2 Mindestlohngesetz  vorgeschriebenen „Gesamtabwägung“ zu sagen hat. Das Gesetz beauftragt die Kommission, bei der Festsetzung der Höhe des Mindestlohns „im Rahmen einer Gesamtabwägung“ folgende drei Kriterien gegeneinander abzuwägen: (1) Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, (2) faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen und (3) keine Gefährdung der Beschäftigung.

Auf die Frage eines Journalisten, was Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeute und wie er in der Arbeit der Kommission gewichtet und bewertet werden müsse, verweist Schönefeld erst vage auf die Gesamtabwägung, bevor sie nur sehr kurz konkreter wird (ab Minute 41:45): „Der Mindestschutz ist nicht zwingend gleichbedeutend mit Armutsschutz. Das ist nicht Aufgabe der Mindestlohnkommission.“

Ja wozu braucht man denn dann überhaupt einen Mindestlohn? Als über Jahrzehnte erfahrene Führungskraft auf verschiedenen Stufen der Bundesagentur für Arbeit, zuletzt als Vorstandsmitglied, muss Schönefeld wissen, dass der Hauptanreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung der Arbeitsverdienst ist. Hat er keinen vernünftigen Abstand zu staatlich geleisteten Transfereinkommen ohne Arbeitsleistung, wird Arbeit zu einem rein intrinsischem „Vergnügen“, das man niemandem abverlangen kann. Insofern ist das Abstandsgebot zwischen diesen Transfers und dem Mindestlohn eine Selbstverständlichkeit.

Nun kann man beim besten Willen nicht behaupten, dass die in Deutschland gezahlten staatlichen Transferleistungen an nicht erwerbstätige Erwerbsfähige ein dickes Schutzpolster gegen Armut darstellen, vielmehr markieren sie die Armutsgrenze, was grundsätzlich auch durch das Bundesverfassungsgericht überprüft werden kann. Und damit hat der Mindestlohn auf jeden Fall etwas mit Armutsschutz zu tun, denn das Gegenüber, zu dem er Abstand halten muss, ist ja gerade die Armutsgrenze, die mit den Transfers abgedeckt werden soll, um der grundgesetzlich garantierten Menschenwürde für jedes Mitglied der Bevölkerung gerecht zu werden.

In der irrigen Auffassung, dass der Mindestlohn nicht zwingend mit Armutsschutz verbunden sei, wird die Kommissionsvorsitzende vom Vertreter der Arbeitgeberseite unterstützt. Kampeter hatte bereits anfangs (ab Minute 13:12) erklärt: „Der gesetzliche Auftrag der Mindestlohnkommission … ist kein Reparaturbetrieb für gesellschaftspolitische oder inflationspolitische Entwicklungen.“ Mit leicht verändertem Zungenschlag wiederholt er diese Sichtweise ab Minute 42:11: „Wir können als Mindestlohnkommission nicht der Reparaturbetrieb sämtlicher sozialpolitischer Entwicklungen sein, die möglicherweise auch kontrovers zwischen uns diskutiert werden.“ Dann spitzt er zu: „Und die Erwartungen, dass das das zentrale Regulativ ist, sozusagen das Bundestransferinstitut, das ist nicht unser gesetzlicher Auftrag.“

Diese Passage der Pressekonferenz sagt viel über die ökonomischen Vorstellungen der Beteiligten aus. Denn wenigstens der Gewerkschaftsvertreter hätte hier erstens klarstellen müssen, dass es beim Mindestlohn nicht um Transferleistungen geht, sondern um die Gegenleistung für Arbeit, die Menschen in und für Unternehmen verrichten. Insofern ist die Bezeichnung „Bundestransferinstitut“ völlig unangemessen. Und er hätte zweitens klarstellen müssen, dass der Staat mit dem Steuer- und Sozialversicherungssystem dauernd der Reparaturbetrieb für die Ergebnisse „der Märkte“ spielt und nicht umgekehrt, wie der Arbeitgebervertreter hier zu suggerieren versucht.

Die Notwendigkeit für einen staatlich – mit oder ohne Kommission – festgelegten Mindestlohn ist Ausdruck des Versagens der privaten Akteure auf den Märkten bzw. Ausdruck der dortigen Machtverhältnisse. Es ist eben nicht automatisch garantiert, dass alle Menschen in einem reichen Land bei Vollzeiterwerbstätigkeit nicht vom Staat subventioniert werden müssen, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Genau das wäre aber erforderlich.

Es ist doch nicht zuletzt die Seite der Arbeitgeber, die regelmäßig beklagt, der Teil des auf den Märkten erzielten Einkommens (des Primäreinkommens), den der Staat zu Umverteilungszwecken (Richtung Sekundäreinkommen) abschöpft, sei viel zu hoch. Genau dagegen wirkt der Mindestlohn. Er verbessert die Primärverteilung zugunsten des unteren Einkommensspektrums, so dass insgesamt weniger umverteilt werden muss.

Güter, die nur deshalb billig produziert werden können und auf entsprechend große Nachfrage stoßen, weil die Menschen, die sie produzieren oder die in deren arbeitsteilige Produktionskette eingebunden sind, nicht von ihrer Arbeit leben können, solche Güter sind zu billig. Die hier zutage tretende indirekte staatliche Subventionierung von Gütern durch nicht-armutsfeste Niedriglöhne muss – wenigstens schrittweise – beseitigt werden, ob das den Arbeitgebern gefällt oder nicht.

Dass man mit 8,50 Euro im Jahr 2015 auf einem Mindestlohnniveau eingestiegen ist, das die staatliche Subvention von zu diesem Lohn Vollzeitbeschäftigten nicht vollständig überflüssig gemacht hat, war ein Zugeständnis an die Arbeitgeber, um überhaupt mit dem Armutsschutz durch eigene Arbeitsleistung beginnen zu können. Die Korrektur dieses Zugeständnisses – um nicht zu sagen: dieses Fehlers – ist mit der Anhebung auf 12 Euro ab Oktober 2022 versucht worden. Dass zu diesem Zeitpunkt die Entwicklung der Verbraucherpreise die Armutsfestigkeit von Vollzeiterwerbstätigkeit zu diesen neuen Mindestlohnbedingungen bereits wieder zu erheblichen Teilen beseitigt hatte, kann man weder der Regierung noch den Gewerkschaften vorwerfen.

Nur weil die Arbeitgeber nur allzu gern das Märchen von der Grenzproduktivität verbreiten, für das die Mainstreamökonomik das pseudowissenschaftliche Mäntelchen liefert, nehmen sie sich das Recht heraus zu behaupten, die Arbeit eines Mindestlohnbeschäftigten sei eben nicht mehr wert als derzeit höchstens 12 Euro. Abgesehen von der unhaltbaren Position, man könne den produktiven Beitrag zum Produktionsergebnis eines Unternehmens für jede einzelne Arbeitskraft oder immerhin für jede Qualifikationsstufe objektiv bestimmen und entsprechend entlohnen, übersehen die Arbeitgeber bei ihrer Argumentation folgendes: Nimmt die relative Armut einer wachsenden Bevölkerungsgruppe in einer Gesellschaft ein immer größeres Ausmaß an oder grenzt sie gar irgendwann an absolute Armut, schwinden die Voraussetzungen für ein produktives, arbeitsteiliges Wirtschaften und damit auch für die Demokratie. Die Voraussetzungen bestehen nämlich normativ darin, dass in der Gesellschaft ein Mindestmaß an Frieden und gegenseitigem Vertrauen herrscht, das es ohne eine faire Verteilung der gemeinsam erwirtschafteten Ergebnisse langfristig nicht gibt. Und rein systematisch ist eine vernünftige und gerechte Verteilung ebenfalls notwendig, weil sonst die binnenwirtschaftliche Nachfrage so schwächelt, dass der Fortschritt im Land durch kräftige Investitionstätigkeit im Wesentlichen von der Überschussnachfrage aus dem Ausland abhängt und auf Dauer zu exportlastigen Fehlstrukturen der Industrie führt.

Mit einem armutsfesten Mindestlohn werden also zwei dringend benötigte Rahmenbedingungen bereitgestellt: ökonomische Gerechtigkeit und gesamtwirtschaftlich ausreichende, auf binnenwirtschaftlicher Nachfrage beruhende Auslastung. All das hätte der Arbeitnehmervertreter in der Kommission, Stefan Körzell, Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstands des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), gegen die Argumentation der Arbeitgeberseite einwenden können und müssen. Ist es nur der kurz zuvor beendeten zermürbenden Nachtsitzung geschuldet, dass er das auf der Pressekonferenz nicht geschafft hat?

Faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen

Das zweite Kriterium im Mindestlohngesetz, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen, ist ein Pappkamerad. Man kann dieses Argument, wie 2015 auch geschehen, als Begründung zur Einführung eines Mindestlohns bringen. Aber sobald der Mindestlohn im Land in aller Konsequenz durchgesetzt wird, wie das das Gesetz an anderer Stelle fordert, gibt es keine Wettbewerbsverzerrung. Hapert es bei der Durchsetzung, kann das nicht als Begründung dafür dienen, dass der Mindestlohn kein armutsfestes Niveau einnehmen darf. Man erhöht ja auch nicht die erlaubte Alkohol-Promille-Grenze beim Autofahren, um die Zahl der Verstöße dagegen zu reduzieren. Nein, ist der Wettbewerb aufgrund von Unterschreiten des Mindestlohns unfair (wie das die Kommission in ihrem Bericht darlegt), dann müssen die Kontrollen und die Ahndung von Verstößen verschärft werden. Mit der angemessenen Höhe des Mindestlohns hat das nichts zu tun.

Wenn es aber um die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber ausländischen Firmen geht, die nicht durch angemessen hohe Mindestlöhne beeinträchtigt werden dürfe, hätte Körzell leichtes Spiel gehabt. Denn ausweislich des seit vielen Jahren in beachtlicher Größenordnung anhaltenden Außenhandelsüberschusses Deutschlands kann von einer solchen Bedrohungslage nicht die Rede sein. Umgekehrt hingegen bedroht Deutschland mit seiner hohen Wettbewerbsfähigkeit die Arbeitsplätze in anderen Ländern und damit auch den Mindestlohn dort.

Gefährdete Beschäftigung?

Das eigentlich zentrale Druckmittel der Arbeitgeberseite gegen Mindestlohnerhöhungen wäre die Drohung mit Arbeitsplatzverlusten. Dieses Argument hat auf der Pressekonferenz mit gutem Grund keine Rolle gespielt. Denn durch die Einführung eines Mindestlohns und seine schrittweise Erhöhung in den Folgejahren bis 2022 sind keineswegs tausende oder gar Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen, wie das die Mainstreamökonomik warnend behauptet hatte. Auf entsprechende Studienergebnisse wird im Kommissionsbericht selbst hingewiesen. Kein Wunder also, dass sich die Kommissionsmehrheit bei diesem Kriterium nicht lange aufhält. Doch warum hat es der Arbeitnehmervertreter nicht für seine Position zu nutzen verstanden?

Die drei Kommissionsmitglieder von Gewerkschaftsseite haben schon im Bericht der Mindestlohnkommission von 2020 zwei große Fehler gemacht und sie auch im diesjährigen Bericht wiederholt. Sie haben sich einerseits auf die Formulierung eingelassen, die Einführung und Erhöhungen des Mindestlohns hätten „in einem insgesamt günstigen wirtschaftlichen Umfeld“ (Bericht 2020, Ziffer 3) stattgefunden bzw. „Vor dem Hintergrund der positiven wirtschaftlichen Entwicklung in den Jahren 2015 bis 2019 haben sich modellbasierte Prognosen, nach denen die Einführung von Mindestlöhnen zu erheblichen Beschäftigungsverlusten führen, in der Realität nicht bestätigt.“ (Bericht 2023, Ziffer 4) Andererseits haben sie dem Forschungsansatz zugestimmt, die Beschäftigungseffekte des Mindestlohns isoliert von anderen Einflussfaktoren, darunter der Konjunktur, zu analysieren (Ziffer 4 bzw. Ziffer 5 in den beiden Berichten).

Doch welches Element könnte einen größeren Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung haben als der Lohn? Er beeinflusst einerseits als bedeutendste Einkommensgröße eines Landes die Nachfrage und als gesamtwirtschaftlich bedeutendste Kostengröße (unter Berücksichtigung der Produktivitätsentwicklung) das Angebot und die Preisentwicklung zentral.

Wie könnten also die Effekte der Entwicklung des untersten Lohnrandes ohne explizite Einbeziehung der Konjunktur sinnvoll analysiert werden? Schließlich waren von der im Oktober 2022 vorgenommenen Anhebung auf 12 Euro 15 Prozent der Beschäftigten direkt betroffen und zudem dürften von ihr Spillover-Effekte auf die darüber liegenden Lohngruppen ausgegangen sein. Damit ist gemeint, dass der Mindestlohn und seine Erhöhung die in Tarifverträgen vereinbarten Stundenentgelte, die etwas höher liegen, „vor sich herschiebt“. Es ist daher völlig unangemessen, die Konjunktur aus der Beschäftigungsentwicklung herausrechnen zu wollen, wenn man die Folgen einer Mindestlohnveränderung für die Beschäftigung untersuchen will.

Da die Gewerkschaftsvertreter der „Isolierung“ vom Faktor Konjunktur zugestimmt haben, wird die Frage nicht gestellt oder gar beantwortet, ob der Mindestlohn eine positive konjunkturelle Wirkung entfaltet und Arbeitsplätze geschaffen statt vernichtet haben könnte. Damit ist aber auch das Argument in der Erhöhungsdebatte verloren gegangen, dass eine Mindestlohnanhebung, die sich an der aktuellen Lohnstauchung etwa im unteren Drittel der Tariflöhne orientiert, aktuell besonders sinnvoll sein könnte – eben nicht nur aus normativen Gründen mit Blick auf die durch die Inflation besonders belasteten Gruppen, sondern auch zur Stabilisierung des privaten Verbrauchs. Das wäre ein systemisches Argument hinsichtlich der Funktionsweise der Marktwirtschaft, über das man sich nicht moralisch zu streiten brauchte.

Obendrein hätte Körzell die Arbeitgeberseite mit ihren Klagen über den Arbeitskräftemangel konfrontieren können, die sie auch für das Segment Geringqualifizierter erheben. Man denke nur an die Engpässe beim Personal für die Kontrollen an Flughäfen. Wie passen derlei Klagen zur Marktlogik? Was Mangelware ist, wird teurer – warum sollte das nicht für die am schlechtesten Verdienenden gelten?

Ceterum censeo: goldene Lohnregel, Abstimmung mit der Geldpolitik und gegebenenfalls Lohnstauchung

Natürlich haben die am schlechtesten Verdienenden Angst vor einer Rezession. Aber könnten nicht beide Tarifparteien zusammen das Gespräch mit der Geldpolitik suchen? Das Versprechen, durch eine durchschnittlich an der Goldenen Lohnregel orientierte Lohnpolitik (jährliche Lohnerhöhung um den durchschnittlichen Produktivitätszuwachs plus 2 Prozent) einer Lohn-Preis-Spirale von vornherein eine Absage zu erteilen, um im Gegenzug eine Zinspolitik zu erreichen, die die Konjunktur nicht abwürgt, wäre doch möglich. Und innerhalb dieses Durchschnittsrahmens wäre es Aufgabe beider Tarifparteien, die untersten Lohngruppen durch eine Stauchung der Lohnstruktur zu schützen. So ist es bereits in einer Reihe von Tarifverträgen gemacht worden und es spricht alles dafür, gerade beim Mindestlohn auch so zu verfahren.

Der jetzt erreichte und völlig unzureichende Beschluss legt nahe, die gesetzlichen Regeln zur Mindestlohnanhebung zu ändern und zwar beispielsweise so: jährliche Anpassung der Mindestlohnhöhe gemäß der aktuellen Tariflohnentwicklung im unteren Drittel aller Lohngruppen unter gleichzeitiger Einhaltung eines Mindestabstands zu staatlichen Transferleistungen für erwerbsfähige Nicht-Erwerbstätige.

Doch leider steht der Verdacht im Raum, dass das Gewerkschaftslager in Sachen Mindestlohn ähnlich gespalten ist wie vor zehn Jahren, wie ich in dem Beitrag „Der Mindestlohn – Lackmustest für die Gewerkschaften“ am 3.12.2013 analysiert hatte. Solange die immer noch mächtige IG Metall mit den Arbeitgebern der Exportbranchen weiter gemeinsame Sache macht auf dem Rücken der auf die Binnenwirtschaft angewiesenen Gewerkschaften und vor allem der nicht organisierten Arbeitskräfte im Niedriglohnbereich, wird sich der DGB dem im vorigen Absatz skizzierten Vorschlag nicht anschließen. Er läuft ja darauf hinaus, dem Gesetzgeber die Durchsetzung der Armutsfestigkeit des untersten Arbeitslohns zu überlassen. Der DGB wird stattdessen auf die Tarifautonomie pochen und kann in diesem Punkt mit der vollen Unterstützung des Arbeitgeberlagers rechnen. Wo kämen wir denn hin, wenn wir mit dem in Sonntagsreden beschworenen Primat der Politik vor der Wirtschaft tatsächlich dort ernst machen würden, wo es für die kleinen Leute von Vorteil wäre?

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Ein Gedanke zu „Das Mindestlohn-Debakel“

  1. Vielen Dank für die Beschreibung der Zusammenhänge.

    Es ist doch sehr erschütternd, festzustellen, von welchen naiv passiven Repräsentanten sich die Arbeitnehmerseite in Deutschland vertreten lässt.
    Dabei sind die Gewerkschaftsbeiträge von c.a. 1% vom Bruttolohn alles andere als günstig.
    Und wenn man sich die letzten Jahrzehnte so anschaut,
    wer da alles für die Arbeitnehmer stellvertretend spricht,
    muss man sich eigentlich schon fremdschämen.

    Im Gegensatz zu der Arbeitgeberseite!
    Klar vertreten diese, teils mit absurden Argumenten ihre Interessen, aber mit was für einer Finesse und argumentatorischen Können!
    Meist fällt mir auf, dass die Arbeitgebervertretung es bspw. in Talkshows schafft, schon nach ca. 5 Min die gesamte Diskussion samt ihrer Teilnehmer, wie naive Kinder, ganz nach ihrem Wunsche zu lenken.
    Was wiederum alle anderen Teilnehmer, sofort als unwissende entlarvt, wenn sie offensichtlich grundlegend arbeitgeberseitigen Argumenten, uni sono zustimmen.

    Es hilft langfristig nur, dass die Arbeitnehmer von fachlich und rhetorisch fähigen Personen vertreten werden.
    Und sollte die fachliche Kenntnis fehlen, so müssen diese Vertreter der Arbeitnehmerseite anfangen, rhetorisch etwas auf die Kette zu kriegen.
    Es kann nicht sein, dass deren Charisma und Redekunst, dem eines nervigen fantasielosen Nachplapperers gleichen.

    Was die fachliche Seite betrifft, hoffe ich auch für die Zukunft auf weitere sehr gute Beiträge, wie diesen.

    Vielen Dank!

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