Osteuropa und Russland – Das ökonomische Desaster, das wir angerichtet haben, wird vergessen – Teil 3

Sucht man eine Bestätigung dafür, wie wichtig und richtig unsere Kritik an den westlichen Institutionen ist, die sich seit dem Fall der Mauer mit der wirtschaftlichen Lage in Osteuropa und Russland beschäftigen, muss man nur nach Brüssel schauen. So sagte die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, am 7.3. im Deutschlandfunk:

„Wir dürfen nicht vergessen, wir haben ja schon eine sehr positive Entwicklung gehabt vorher in einer ganz engen Zusammenarbeit mit der Ukraine, z.B. die ganzen Schritte die beiden Märkte, der europäische Binnenmarkt, aber auch die ukrainische Wirtschaft, stärker zu integrieren.“

Sie verwechselt, wie das so oft im Westen geschieht, eine für westliche Exporteure vorteilhafte Entwicklung mit einer positiven Entwicklung des Landes, das die Exporte aufnimmt. „Integration“ bedeutet in den meisten Fällen eine wirtschaftliche Bedrohung für die zu integrierenden Länder, weil man im Westen nicht bereit ist, das zu tun, was wirklich notwendig wäre, um diesen Ländern eine stabile und in deren Sinne erfolgreiche eigene Entwicklung zu ermöglichen. 

Die Bedeutung stabiler außenwirtschaftlicher Beziehungen wird von den meisten Ökonomen, darunter auch denen des Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission, unterschätzt. Es gehört zwar zum festen Kanon der herrschenden Lehre in der Ökonomik, dass der innere Geldwert stabil, also die Inflationsrate eines Landes konstant und relativ niedrig sein sollte. Hinsichtlich des äußeren Geldwertes, also des Wechselkurses einer Währung, der für kleine offenen Länder ja sehr wichtig ist, damit sie sich in die Weltwirtschaft integrieren können, ist die Position des Mainstreams weniger klar. In diesem Bereich glauben die meisten fest daran, es gebe praktisch immer eine Lösung an den Devisenmärkten, die für einen angemessenen Ausgleich zwischen starken und schwachen Ländern sorge. Freie Devisenmärkte und ihre „flexiblen“ Ergebnisse schaffen aber diesen angemessenen Ausgleich für kleine und sehr offene Länder nicht systematisch, sondern bestenfalls nur ab und zu zufällig. Sehr oft liefern sie jedoch systematisch verzerrte Ergebnisse und damit das Gegenteil eines angemessenen Ausgleichs (Stichwort carry trade). Für die sehr großen und relativ geschlossenen Volkswirtschaften der USA und der EWU als Ganzes sind die außenwirtschaftlichen Verhältnisse allerdings relativ stabil (Abbildungen 1 und 2). Die USA weisen zwar seit vielen Jahren ein Leistungsbilanzdefizit auf, aber die Bewegungen des nominalen wie des realen Wechselkurses (letzterer ist das entscheidende Maß für die Veränderung der Wettbewerbsfähigkeit einer ganzen Volkswirtschaft) verlaufen kaum einmal ruckartig in Reaktion auf außenwirtschaftliche Schocks. Die Bandbreite der Veränderungen in den letzten zwei Jahrzehnten betrug für den realen Wechselkurs der USA unter 25 Prozentpunkte.

Abbildung 1

Ähnliches gilt für die EWU. Die weist, geprägt vom deutschen Exportüberschuss, seit einigen Jahren einen deutlichen Leistungsbilanzüberschuss auf. Aber der nominale und der reale Wechselkurs bewegen sich in einer Bandbreite von zwanzig Prozentpunkten, schwanken also noch weniger als die der USA.

Abbildung 2

Anders sieht das in China aus (Abbildung 3), wo es im Jahrzehnt von Mitte der 2000er Jahre bis 2015 immerhin eine reale Aufwertung von über vierzig Prozentpunkten gegenüber dem Rest der Welt gab. Aber diese Aufwertung vollzog sich in relativ gleichmäßigen Schritten, weil die chinesische Zentralbank die nominale Aufwertung der Landeswährung jederzeit kontrollierte. Zudem war es eine Aufwertung, die von einem stark unterbewerteten Wechselkurs aus begann. China hatte den Wechselkurs seiner Währung gegenüber dem US-Dollar im Jahr 1993 auf niedrigem Niveau fixiert und diese Fixierung erst zu Beginn des Jahrhunderts allmählich gelockert. Im Gefolge sank der chinesische Überschuss in der Leistungsbilanz von einem sehr hohen Niveau auf unter zwei Prozent des BIP.

Abbildung 3

Auch Russland (vgl. Abbildung 4) weist noch immer einen Leistungsbilanzüberschuss auf. Allerdings ist der Überschuss für ein so stark auf den Rohstoffexport konzentriertes Land inzwischen mit Werten zwischen 2 und 6 Prozent eher gering. Zum Vergleich: Saudi-Arabien hat zwischen 2000 und 2019 einen durchschnittlichen jährlichen Leistungsbilanzüberschuss von 12 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts erzielt. Hinzu kommt, dass der russische Rubel im Zuge der Krise auf der Krim und im Donbass-Becken zwischen 2013 und 2015, also in nur zwei Jahren, nominal um 40 Prozent abgewertet hat, real um immerhin mehr als ein Viertel (die linke Skala für die Wechselkursindizes ist in Abbildung 4 größer als in den vorherigen Grafiken). Bei einem weniger auf Rohstoffe ausgerichteten Handel hätte das den Leistungsbilanzüberschuss des Landes vermutlich wieder deutlicher steigen lassen.

Abbildung 4

Katastrophal sind die außenwirtschaftlichen Verhältnisse der Ukraine (Abbildung 5). Das Land weist trotz erheblicher Rohstoffexporte immer dann eine massiv defizitäre Leistungsbilanz auf, wenn es sich nicht in einer Rezession befindet. Der reale Wechselkurs (hier nur gegenüber dem Euro berechnet; die Bank für internationalen Zahlungsausgleich BIZ weist für die Ukraine keine effektiven Wechselkurse aus) schwankt heftig. Das bedeutet, dass die Unternehmen keine Planungssicherheit hinsichtlich ihrer Wettbewerbsposition gegenüber ausländischen Konkurrenten haben.

Mehrere Male ist es zudem in dem hier betrachteten Zeitraum zu der Konstellation gekommen, dass die Währung real aufwertete und sich der Leistungsbilanzsaldo unmittelbar verschlechterte, also ins Defizit abrutschte bzw. das Defizit vergrößerte. Zum Vergleich: In Russland ging die reale Aufwertung zwischen 2005 und 2013 ebenfalls mit einem Rückgang des Leistungsbilanzsaldos einher, aber er blieb immerhin im positiven Bereich. Die ukrainische Währungsentwicklung lässt darauf schließen, dass das Land immer wieder durch Währungsspekulation an Wettbewerbsfähigkeit verloren hat. Sobald die wirtschaftliche Entwicklung dann einmal nicht ganz so schlecht verlief (etwa 2010 bis 2013), führte diese Währungskonstellation sofort zu einem Anstieg der Importe, der heimische Produzenten in Schwierigkeiten brachte.

Abbildung 5

Besonders tragisch ist es im Fall der Ukraine, dass der Versuch, die eigene Bevölkerung von der Abwanderung in den Westen abzuhalten, die eigenen Produktionsgrundlagen zerstört. Wir haben das gleiche Problem bereits für andere osteuropäische Länder beschrieben (hier), die im Gegensatz zur Ukraine Mitglied der EU sind. Die Reallöhne sind in der Ukraine von 2005 bis 2020 von einem Indexstand 100 auf 1400 gestiegen. Das entspricht einem durchschnittlichen jährlichen Lohnzuwachs von fast 20 Prozent. Und das in einem Land, in dem das reale BIP in dieser Zeit nur um durchschnittlich jährlich 2 ½ Prozent gestiegen ist. Diese geringe durchschnittliche Wachstumsrate beruht wesentlich auf den extremen Rezessionen im Zuge der weltweiten Finanzkrise 2009 (-15 Prozent) und des Krim-Donbass-Konflikts 2014, die das reale Bruttoinlandsprodukt 2014 und 2015 zusammengenommen noch einmal um dieselbe Größenordnung zurückwarf.

Die Wachstumsrate eines Landes weicht von der Wachstumsrate seiner durchschnittlichen Produktivität in dem Maße ab, in dem sich die Beschäftigung verändert: Nimmt die Beschäftigung zu, kann das Bruttoinlandsprodukt stärker zulegen als die Produktivität. Nimmt die Beschäftigung ab, wächst die Wirtschaft langsamer als die Produktivität. Bei einer so großen Differenz zwischen Nominallohnentwicklung und realem Bruttoinlandsprodukt wie in der Ukraine liegt es auf der Hand, dass hier die Löhne sehr viel stärker gesteigert wurden, als was die Produktivitätsentwicklung selbst unter optimistischen Annahmen zur Investitionstätigkeit hergegeben haben kann. Denn auch wenn die Beschäftigung rückläufig gewesen sein mag, so stark ist sie keinesfalls gesunken, dass die Entwicklung von gesamtwirtschaftlichem Wachstum und gesamtwirtschaftlicher Produktivität dermaßen auseinandergehen konnte. Liegt aber die Lohnentwicklung weit jenseits der Produktivitätsentwicklung, muss es zwangsläufig zu hoher Inflation kommen – wie das auch tatsächlich der Fall war (vgl. Abbildung 4 aus Teil 2 dieser Artikelserie).

Eine solche binnenwirtschaftliche Geldentwertung macht eine starke nominale Abwertung der Währung erforderlich, wenn die internationale Wettbewerbsfähigkeit eines Landes nicht rasant verloren gehen soll. Doch diese Abwertung erfolgte nicht zeitnah, nicht kontinuierlich und nicht so erwartbar, dass ukrainische Unternehmen privatwirtschaftliche Investitionen sinnvoll planen und erfolgreich ausführen konnten. Die kriegerischen Auseinandersetzungen im Osten des Landes taten ein Übriges, das Investitionsklima zu verschlechtern. Die Folge war, dass es zu keinem nennenswerten Ausbau des binnenwirtschaftlichen industriellen Kapitalstocks gekommen ist, vielmehr der vorhandene Kapitalstock weiter obsolet wurde. Die Perspektive für die Bevölkerung verschlechterte sich infolgedessen weiter.

Zusätzlich zu der exorbitanten Nominallohnsteigerung war in den vergangenen 15 Jahren eine stark schwankende Reallohnentwicklung zu beobachten (Abbildung 6): In jeder wirtschaftlichen Erholungsphase schossen die Nominallöhne steil nach oben, ohne dass die Unternehmen dies offenbar mit entsprechenden Preissteigerungen sofort ausgleichen konnten. Dadurch nahmen auch die Reallöhne zwischenzeitlich sehr stark zu. Nach unten ging es mit den Reallöhnen zwar dann ebenso wieder schnell. Aber insgesamt ergab sich daraus eine im Vergleich zu den großen Wirtschafts- und Währungsräumen EWU und USA extrem instabile Kosten- und Nachfrageentwicklung. Zusätzlich brachten wie oben erläutert die Devisenmärkte keine zur heimischen Inflation zeitnah passende Abwertung der Währung zustande. Beides zusammen stellte die ukrainischen Unternehmen vor enorme Probleme. In einer solchen Gemengelage ist auch die Geldpolitik überfordert, positive Investitionsanreize zu geben oder gar die wirtschaftliche Entwicklung zu stabilisieren.

Abbildung 6

Die eingangs zitierten Worte der Präsidentin der EU-Kommission, es habe bereits eine sehr positive Entwicklung gegeben und es seien Schritte zu einer stärkeren Integration der ukrainischen Märkte mit den EU-Märkten gegangen worden, entbehren jeder Grundlage, wenn man die Dinge aus einer gesamtwirtschaftlichen Sicht mit dem Fokus darauf analysiert, welche positiven nachhaltigen Entwicklungsperspektiven sich daraus für dieses Land und seine Bevölkerung ergeben haben.

Lesen Sie im vierten Teil, dass Wandel durch Handel möglich und für ein friedliches Zusammenleben tatsächlich fruchtbar sein kann, aber nur, wenn es für alle Beteiligten dabei fair zugeht. Der Westen muss, falls er es mit der Integration der ehemaligen Ostblockländer wirklich ernst meint, ein völlig neues Handels- und Währungsmodell auf die Beine stellen statt sich in kolonialer Manier Vorteile zu verschaffen.

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