Robert Habecks erster Jahreswirtschaftsbericht: Manipulation ist noch keine Wirtschaftspolitik

Manchmal bringt die 13 doch Unglück. Jedenfalls ist für Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, das Schaubild 13 auf Seite 109 im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung für 2022, den er gerade der Presse präsentiert hat, gelinde gesagt, kein Glücksgriff. Es zeigt in kaum zu übersehender Weise, dass der BMWK, wie er sich selbst nennt, zwar das Klima zu seinem großen Thema macht, bei der Wirtschaft aber unverkennbar auf den wackligen Holzwegen seiner Vorgänger wandelt. Was der BMWK (noch) nicht begreift: Wer Wirtschaft nicht beherrscht, wird auch beim Klimaschutz scheitern.

Eine Regierung, die sich das Motto „Fortschritt wagen“ gegeben hat, braucht Investitionen. Wer die Wirtschaft nicht nur aus der Talsohle holen, sondern über Jahrzehnte grundlegend umstrukturieren will, braucht sogar sehr viele Investitionen. Und weil die FDP an Bord ist, braucht man private Investitionen, denn für die öffentlichen steht nicht allzu viel Geld zur Verfügung nach Lesart der Liberalen. Nur, wie alle Informierten wissen, sind die privaten Investitionen seit vielen Jahren die Achillesferse nicht nur der deutschen, sondern der gesamten europäischen Wirtschaft (hier unser dazu gerade erschienenes Stück).

Private Investitionen sind erwünscht, nur woher sollen sie kommen?

Wenn man keinen Aufschwung der privaten Investitionen hat, ihn politisch aber braucht, dann macht man sich eben einen, müssen sich die Beamten der in Berlin an der Erstellung des Berichts beteiligten Ministerien wohl gedacht haben. Also sammelt man alles zusammen, was man nur finden kann, und packt es in ein auf den ersten Blick positiv wirkendes Schaubild (vgl. Abbildung 1): Zunächst zeigen drei der vier Indikatoren, dass die privaten Investitionen vor dem Coronaschock stagnierten. Der vierte Indikator, der auf Umfragen basierende Stimmungsindikator des ifo zur in den jeweils nächsten sechs Monaten erwarteten Geschäftsentwicklung der Investitionsgüterproduzenten (die blauen Balken in der Grafik), ging vor Corona bereits über ein Jahr mehr oder weniger kontinuierlich bergab.

Abbildung 1 (Original aus dem JWB 2022)

Nach dem Corona-Schock im Frühjahr 2020 geht dieser Stimmungsindikator zwar nach oben – aber wohin sollte er sonst nach einem solchen Schock gehen? Aus der bloßen Reaktion auf den tiefen Einbruch folgt nicht automatisch, dass sich nach der Krise etwas an der offenkundigen Misere der Branche grundlegend geändert hat. Zuletzt werden die positiven Salden des Stimmungsindikators ja auch schon wieder deutlich kleiner. Wie es wirklich um die Investitionsdynamik in Deutschland bestellt ist, kann man anhand der Inlandsumsätze der Investitionsgüterindustrie sehen (die blaue Linie), die ihren abwärts gerichteten Trend von der Zeit vor Corona wieder aufgenommen haben und trotz der aufwärtsgerichteten Zacke im November über zehn Prozentpunkte unter ihrem Wert von Anfang des Jahres 2019 liegen.

(Die Ausrichtung der Null auf der rechten Achsenskala gegenüber dem Index-Wert 90 auf der linken Achse mag der besseren „Lesbarkeit“ der Grafik im Zeitabschnitt 2019 dienen. Naheliegender und üblicher wäre eine Positionierung gegenüber dem Indexwert von 100. Dadurch würde für den eiligen Leser des Berichts die Misere der aktuellen Lage 2021 offensichtlicher. Denn dann erschienen sowohl die blaue als auch die gelbe Kurve unterhalb der Balken des Stimmungsindikators und die rote ragte weniger über die Balken hinaus. Dass der Dezember-Wert von ifo nichts Gutes für die Dezember-Werte des Statistischen Bundesamtes verspricht, wäre bei der vorgeschlagenen Darstellungsweise ebenfalls noch schneller zu erkennen als bei der vom Ministerium gewählten.)

So weit so gut bzw. so schlecht. Doch scheinbar positiv hebt sich von der blauen Kurve die rote ab: Sie ist seit dem Einbruch im Frühjahr 2020 bis zum Sommer 2021 deutlich gestiegen. Dargestellt sind die Auftragseingänge der Investitionsgüterproduzenten, also ein Indikator, der die Investitionsnachfrage abbildet. Allerdings handelt es sich hier – anders als bei den Umsätzen – um die gesamte Nachfrage nach Investitionsgütern bei deutschen Herstellern, also auch um die Nachfrage seitens des Auslands. Nur, was sagt die Nachfrage des Auslandes bei den deutschen Investitionsgüterproduzenten über die inländische Investitionsneigung aus, um die es dem BMWK doch vorrangig geht? Die ausländische Investitionsnachfrage stützt zweifellos die deutsche Konjunktur, aber sie führt nicht zu einer Vergrößerung oder Umstrukturierung des inländischen Kapitalstocks, die die Regierung doch für so notwendig ansieht.

Jeder, der sich mit Konjunkturanalyse beschäftigt, weiß, dass man als zuverlässigen Indikator für die inländische Investitionstätigkeit die Inlandsnachfrage bei den heimischen Herstellern von Investitionsgütern betrachten muss. Verwendet man diesen Indikator, dann sieht das Bild so aus:

Abbildung 2

Weder die inländische Nachfrage noch der inländische Umsatz und die Produktion bei den deutschen Investitionsgüterherstellern lassen den Schluss zu, es ginge in irgendeiner Weise aufwärts. Zieht man als Indikator den inländischen Auftragseingang ohne Großaufträge mit heran (die durchgezogene rote Linie in Abbildung 2), bleibt von dem „Allzeithoch zur Mitte des Jahres 2021“, von dem im Jahreswirtschaftsbericht in Ziffer 287 die Rede ist, praktisch nichts mehr übrig. Vielmehr spricht alles dafür, dass sich die eklatante Investitionsschwäche, die trotz Nullzinsen seit der Eurokrise 2012 in Deutschland zu beobachten ist, nach Corona fortsetzt (vgl. Abbildung 3, die gleitende Drei-Monatsdurchschnitte zeigt).

Abbildung 3

Warum sollte das auch anders sein? Der Corona-Schock war eine große Belastung für die Unternehmen, und an allen anderen für die Investitionstätigkeit entscheidenden Faktoren hat sich nichts zum Positiven gewendet.

Wenn etwas wenigstens ein bisschen besser läuft, dann ist es am ehesten die Investitionstätigkeit in anderen Ländern (vgl. Abbildung 4). Zumindest hat sich die Nachfrage des Auslands nach deutschen Investitionsgütern, namentlich die des Nicht-EWU-Auslands, deutlich stärker vom Corona-Schock erholt als die des Inlands. Wie gesagt: Das ist für die deutsche Konjunktur zunächst hilfreich. Doch kann es nicht im langfristigen Interesse Deutschlands sein, wenn sein inländischer Kapitalstock nicht Schritt hält mit der Produktivitätsentwicklung anderswo.

Abbildung 4

Auch die Ampel braucht den Merkantilismus

Wer in Deutschland etwas verändern und voranbringen will, muss sich mit der inländischen Investitionsschwäche auseinandersetzen statt sie schönzureden. Offensichtlich war die große deutsche Transformation zu Beginn dieses Jahrhunderts weit weniger erfolgreich, als es fast alle Parteien in Deutschland (einschließlich der drei Ampelparteien) glauben wollen. Der vom Staat (zunächst von Rot-Grün) vorangetriebene und schließlich durchgesetzte Kurswechsel hin zu einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit durch „Lohnzurückhaltung“ und die massive Entlastung der Unternehmen von Steuern und Abgaben hat nicht die erhofften Auswirkungen gehabt.

Zwar erzielt Deutschland seitdem regelmäßig hohe Leistungsbilanzüberschüsse und hat seine globalen Marktanteile (zulasten der Handelspartner in Europa und anderswo) relativ gut gehalten, obwohl China und andere Entwicklungsländer auf die Weltmärkte drängen. Doch insgesamt hat das nicht gereicht, um die Investitionen hierzulande zu beleben. Wer die Löhne senkt, senkt nämlich auch die Binnennachfrage. Wenn in einer Währungsunion im größten Land unter politischem Druck die Löhne nicht entsprechend der Inflationsvorgabe der Zentralbank (plus der nationalen Produktivität) erhöht werden, drückt das nicht nur die eigene Binnennachfrage, sondern früher oder später die der ganzen Währungsunion, weil alle Mitgliedsländer gezwungen sind, dem größten Land zu folgen und ebenfalls Druck auf ihre jeweiligen Löhne auszuüben.

Das ist der Kern der europäischen Misere, und Deutschland ist ihr Verursacher und ihr Opfer zugleich. Nur wenn Deutschland seinen Versuch, Wettbewerbsfähigkeit auf nationaler Ebene zu erringen und zu halten, aufgibt, kann Europa seine Binnenmarkt- und Investitionsschwäche überwinden. Nur dann hat Europa auch eine Chance, Mehrheiten für eine Politik zu gewinnen, die dem Schutz der Natur und des Klimas trotz der enormen Friktionen, die das mit sich bringt, gerecht wird.

Die europäische Misere lässt sich am besten anhand der Arbeitslosigkeit zeigen, die einfach nicht verschwinden will. In Abbildung 5 wird die Entwicklung der Arbeitslosenquoten in Europa (EU und EWU) und in den USA in den vergangenen dreißig Jahren dargestellt. Offensichtlich ist Europa im Gegensatz zu den USA immer wieder an der Aufgabe gescheitert, die Arbeitslosigkeit nach einer tiefen Rezession auf ein Niveau zurückzuführen, das mit „hoher Beschäftigungsstand“ oder sogar mit Vollbeschäftigung bezeichnet werden könnte.

Abbildung 5

Das ist die entscheidende Hypothek für die Zukunft, weil in Gesellschaften, die über Jahrzehnte von hoher Arbeitslosigkeit und großer Perspektivlosigkeit der Masse der Menschen gekennzeichnet sind, die Politiker den Menschen nicht plausibel erklären können, dass der Verlust bisheriger Arbeitsplätze und der Aufbau neuer Produktionsstrukturen, wie sie mit der Bekämpfung des Klimawandels einhergehen werden, durchaus eine Chance darstellen.

All das aber will der neue BMWK offenbar nicht wissen oder einfach nicht wahrhaben. Stattdessen versucht er sich im Jahreswirtschaftsbericht an einer Rechtfertigung des deutschen Merkantilismus, die mit der Position der Vorgängerregierungen vollkommen übereinstimmt und damit für das Gegenteil des Koalitionsmottos „Fortschritt wagen“ steht. Auf Seite 108 Ziffer 285 des Berichts steht:

„Der Saldo der Leistungs­bilanz ist überwiegend durch Faktoren beeinflusst, die nicht direkt durch wirtschafts-­ und finanzpoli­tische Maßnahmen beeinflusst werden können. Er ist vor allem Ergebnis von marktbasierten Angebots-­ und Nachfrageentscheidungen von Unternehmen und privaten Verbrauchern auf dem Weltmarkt. Gleichzeitig ist der deutsche Leistungsbilanzüberschuss Ausdruck der hohen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und ihres auf Investitionsgüter ausgerichteten Produktportfolios.“

Der erste Satz ist falsch. Der zweite suggeriert, die Politik sei machtlos gegenüber dem Marktgeschehen, weil letzteres auf freiwilligen einzelwirtschaftlichen Entscheidungen beruht – eine Position, die die Grünen zurecht stets abgelehnt haben, als sie noch in der Opposition waren. Denn dass sich jedes einzelne Wirtschaftssubjekt im In- wie im Ausland nach den Märkten richten muss, ist eine mikroökonomische Binsenweisheit. Dass aber der Staat keinen Einfluss auf Märkte – auch internationale – haben soll, ist, wenn sie denn richtig wäre, eine Bankrotterklärung, die sich ein Minister der Grünen niemals hätte erlauben dürfen und die zeigt, dass es ihm entweder am makroökonomischen Verständnis mangelt oder er schon jetzt gegenüber der FDP aufgegeben hat.

Der dritte Satz steht im Widerspruch zum ersten. Denn wenn der deutsche Überschuss Ausdruck der hohen deutschen Wettbewerbsfähigkeit ist – was außer Frage steht, worin dem BMWK also zuzustimmen ist – und die Bundesregierung Anfang der 2000er Jahre alles daran gesetzt hat, um über die „Flexibilisierung“ des deutschen Arbeitsmarktes die deutsche Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen – was ebenfalls unzweifelhaft ist –, dann waren es tatsächlich wirtschaftspolitische Maßnahmen, die für den deutschen Leistungsbilanzüberschuss verantwortlich sind. Diese Maßnahmen bewirkten nämlich das deutsche Lohndumping in der europäischen Währungsunion und damit die reale Abwertung Deutschlands gegenüber den Währungspartnern wie gegenüber dem Rest der Welt. Eine damit einhergehende Ausweitung des Niedriglohnsektors in Deutschland und Senkung der deutschen Arbeitslosenquote können diese Wirtschaftspolitik weder entschuldigen noch sinnvoll begründen. Das wäre so, als ob bei einem Raubüberfall die Täter die Verwendung der Beute für ihr eigenes Wohlergehen als Rechtfertigung ihrer Tat anführen wollten.

Dass Deutschland sich auch in diesem Jahreswirtschaftsbericht zum Freihandel und seinen hehren Prinzipien bekennt und gleichzeitig mit seinem Überschuss das wichtigste Prinzip des Freihandels mit Füßen tritt, ist an Plumpheit nicht zu überbieten. Wer absolute Vorteile – zumal in einer Währungsunion – anstrebt und um jeden Preis zu halten versucht, hat nicht nur den Freihandel nicht verstanden, sondern auch die Grundlagen der friedlichen Zusammenarbeit der Völker. Auf dieser geistigen Basis, die ja nichts anderes als die blinde Fortführung des Merkelschen Merkantilismus ist, wird die Ampel den gesamten Kontinent auch in den kommenden Jahren politisch blockieren und letztlich destabilisieren. Doch es ist wohl weiterhin so: Bevor wir Einsicht zeigen, überlassen wir lieber den Rechtsradikalen in Frankreich und anderswo das Feld, auch wenn der Kollateralschaden unseren eigenen Nutzen bei weitem übersteigt.

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