Ein Hoch auf die Europäische Zentralbank

Man stelle sich einmal vor, es hätte die Europäische Währungsunion (EWU) nie gegeben, die Europäische Zentralbank (EZB) wäre nie gegründet worden, Deutschland würde in monetären Fragen immer noch von der Deutschen Bundesbank dirigiert, und es gäbe nach der Pandemie die gleichen Knappheiten und die gleichen spekulativ bedingten Preissteigerungen bei einzelnen Produkten wie derzeit. Welch ein Desaster das wäre! 

Nach der globalen Pandemie würde die Deutsche Bundesbank ohne Zweifel stark unter dem Druck der vielen „Experten“ stehen, die heute in Deutschland tagein tagaus die Geschichte von der großen, jetzt unmittelbar drohenden Inflation erzählen, die man sofort mit Zinserhöhungen bekämpfen müsse.

Zinsen rauf auf Teufel komm raus?

Noch viel schlimmer: Der größte Scaremonger in Sachen Inflation, Hans-Werner Sinn, wäre vermutlich Mitglied des Direktoriums der Deutschen Bundesbank gewesen und hätte der Deutschen Bundesbank nach seiner Pensionierung Erben hinterlassen, die ihm in nichts nachstünden. Was nichts anderes heißt, dass die Inflationsbekämpfer in der Bundesbank in einer wirtschaftlichen Situation wie der jetzigen (vgl. Abbildung 1) mit aller Macht die Zinsen erhöhen würden.

Abbildung 1

Die deutsche Wirtschaft (in der Abbildung ist das produzierende Gewerbe, also Industrie plus Bauwirtschaft, dargestellt, dazu Verarbeitendes Gewerbe und die Investitionsgüterproduktion) hat sich zwar von dem tiefen coronabedingten Einbruch etwas erholt. Aber sie hat noch nicht wieder das Vorkrisenniveau erreicht. Und sie steht, wie Abbildung 1 zeigt, schon wieder auf der Kippe und ist in großer Gefahr erneut abzustürzen. Der Klimaindex des ifo-Instituts zeigt für die konjunkturanfälligen Teile der Wirtschaft eindeutig in Richtung Rezession. Im Herbst des vergangenen Jahres waren immerhin noch 3 ½ Millionen Menschen in Deutschland ohne Arbeit (Arbeitslose plus auf Vollzeit hochgerechnete Kurzarbeit, von den übrigen Unterbeschäftigten gar nicht zu reden) und die Zahl der Kurzarbeiter stieg zuletzt wieder.

Allenthalben werden Parallelen zur Ölpreiskrise der 1970er Jahre gezogen, wo sich nach Meinung der Inflationsbekämpfer gezeigt habe, dass man eine über die Importe hereinkommende Inflation sofort energisch bekämpfen müsse, um Schlimmeres zu verhindern. Dass in den siebziger Jahren die Lohnentwicklungen in Reaktion auf die Importpreissteigerungen bei Vollbeschäftigung der Wirtschaft in Westdeutschland und in den anderen Industrieländern in völlig anderen Sphären lagen, wird dabei geflissentlich übersehen (Abbildung 2): Damals betrug in Westdeutschland der niedrigste Wert der durchschnittlichen Nominallohnsteigerung 5,1 Prozent im Jahr 1978. Anfang der siebziger Jahre gab es in Deutschland ungefähr eine Million offene Stellen und 100 000 Arbeitslose und damit eine völlig andere Machtverteilung zwischen den Tarifparteien. Heute haben wir 800 000 offene Stellen und 3 ½ Millionen Arbeitslose.

Abbildung 2

Mit einem durchschnittlichen Lohnanstieg von 2 ½ Prozent in den vergangenen zehn Jahren und 2,6 Prozent in den vergangenen beiden Jahren haben sich die Tarifpartner in geradezu unerhörter Weise von den Zuwachsraten entfernt, die in den siebziger Jahren gang und gäbe waren. Die deutschen und die europäischen Lohnabschlüsse liegen bei den Nominallohnzuwächsen im Durchschnitt der letzten fünf Quartale, die verfügbar sind, sogar unter dem Inflationsziel der EZB von 2 Prozent (Abbildung 3).

Abbildung 3

Die Bundesbank hat tatsächlich solche Fehler gemacht …

Was wir hier im Konjunktiv beschreiben, ist keineswegs Fiktion. Die Deutsche Bundesbank hat in ihrer Geschichte mehrfach solche gravierenden Fehler gemacht, ohne dass man es in der deutschen Politik und Öffentlichkeit bis heute zur Kenntnis genommen hätte. Der erste große Fehler war schon die scharfe monetäre Restriktion nach der zweiten Ölpreiskrise von 1979, als sich die Lohnentwicklung weitgehend beruhigt hatte und die Inflationsgefahr schlicht eingebildet war.

Im Jahr 1992 erhöhte die Bundesbank die Zinsen in einer Situation, in der die deutsche Wirtschaft schon auf Talfahrt war, und führte eine Rezession herbei, von der ganz Europa stark betroffen war. Vergessen sollte man auch nicht die Jahre 2008 und 2011, als die EZB unter maßgeblich deutschem Einfluss (Chefvolkswirt war ein Deutscher, Jürgen Stark) die Zinsen zu Zeitpunkten erhöhte, als dies vollkommen unangemessen war.

… und das für ganz Europa

Noch toller ist, dass Hans-Werner Sinn und die ihm Gleichgesinnten über die EZB und damit über Europa sprechen, wo die „Basarökonomie Deutschland“ (so Hans-Werner Sinns vollkommen neben der Sache liegende Beschreibung von Anfang der 2000er Jahre) mit einem Leistungsbilanzüberschuss von inzwischen fast wieder sieben Prozent des BIP (6,9 Prozent nach den aktuellen Berechnungen der Bundesbank für 2021) den anderen Ländern des Euroraums jede Möglichkeit nimmt, über die Exporte eine Lösung für die Beschäftigungsprobleme zu finden, so wie es Deutschland vorgemacht hat. Dieser massive Verstoß gegen die europäischen Regeln (siehe den sogenannten score board der macroeconomic imbalance procedure, wo die Leistungsbilanz zu den von allen Ländern akzeptierten Indikatoren gehört) wird sowohl von den Scaremongern als auch dem Rest der deutschen Öffentlichkeit inklusive des gesamten politischen Spektrums als Tabu behandelt und einfach verschwiegen.

Das zu verschweigen ist eine wissenschaftliche und politische Bankrotterklärung, denn die Auswirkungen des deutschen Merkantilismus sind enorm. Die Arbeitslosigkeit ist in den meisten Ländern der EWU immer noch sehr hoch, weil Europa – anders als die USA – die zehn Jahre nach der Finanzkrise glatt verschlafen hat. Anstatt alles auch von Seiten der Verschuldung der Staaten zu tun, was notwendig gewesen wäre, um sich an Vollbeschäftigung anzunähern, hat man unter deutscher Regie mit Gewalt versucht, die Staatsfinanzen zu konsolidieren, obwohl das nach Lage der Salden der übrigen Sektoren unmöglich war (zur Erläuterung dieses Papier).

Man muss eigentlich nicht erwähnen, dass die Investitionen der Unternehmen, auf die es doch nach Meinung von Hans-Werner Sinn und seinen Mitstreitern für eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung besonders ankommt, in den vergangenen zehn Jahren niemals einen Aufschwung erlebt haben. Abbildung 1 zeigt, dass insbesondere die Produktion von Investitionsgütern in Deutschland klar auf Rezessionskurs ist – nach dem schweren Einbruch des Jahres 2020! Der Index für den Auftragseingang aus dem Inland bei den deutschen Investitionsgüterherstellern lag Ende des vergangenen Jahres bei 100 – und das bei einem Index, der auf der Basis 2015=100 berechnet ist. Mit anderen Worten: Es wird zwar im Inland ungefähr so viel investiert wie vor sechs Jahren, aber von einer Investitionsdynamik, die Zinserhöhungen vertragen würde, kann überhaupt nicht die Rede sein.

In dieser Situation die Zinsen erhöhen zu wollen, wäre nicht nur unverantwortlich, es wäre gemeingefährlich. Man fragt sich, warum die deutschen Unternehmensverbände nicht auf die Barrikaden gehen, wenn von deutschen Ökonomen implizit gefordert wird, eine Investitionsdynamik zu bremsen (denn genau das geschieht bei steigenden Zinsen), die es gar nicht gibt.

Gut, dass es die heutige EZB gibt

Da muss man froh sein, dass es eine EZB gibt, die sich von den unsinnigen deutschen Paradigmen emanzipiert hat und sich im Großen und Ganzen von der germanischen Inflationsphobie bisher nicht infizieren lässt. Die EZB-Spitze beharrt zu Recht darauf, dass das Inflationsphänomen vorübergehend ist und es bisher keine Anzeichen dafür gibt, dass eine Preis-Lohn-Preis-Spirale entsteht, die für die Zentralbank der einzige gerechtfertigte Anlass wäre, auf die Zinsbremse zu treten.

Die EZB weiß im Gegensatz zu den leichtfertigen deutschen Kommentatoren, wie schwach die europäische Wirtschaft ist und wie weit sie von einer Situation entfernt ist, in der es den Gewerkschaften gelingen könnte, wirklich deutlich höhere Lohnsteigerungen durchzusetzen. Wer sich dagegen hinstellt und einfach behauptet, die Gewerkschaften könnten das sehr wohl in der aktuellen Situation genau mit der Begründung der aktuell höheren Inflationsrate durchsetzen, übersieht die seit Jahren herrschende Umkehrung der Machtverteilung zwischen den Tarifparteien im Vergleich zu den siebziger Jahren. Derjenige übersieht obendrein, dass die Corona-Krise zusätzlich tiefe Spuren bei den Arbeitskräften in den besonders negativ betroffenen Branchen hinterlassen hat, was die Kampfbereitschaft für höhere Löhne untergräbt.

Mit dem vielfach und seit Jahren beklagten deutschen Fachkräftemangel ist die Warnung vor einer jetzt drohenden Preis-Lohn-Preis-Spirale nicht zu begründen, weil der behauptete Mangel ja in den letzten zehn Jahren zu vernünftigeren Lohnabschlüssen wenigstens in Deutschland hätte führen müssen, was nicht der Fall war. Stattdessen hat die Lage am gesamten europäischen Arbeitsmarkt den Gewerkschaften in Europa im vergangenen Jahrzehnt keine Lohnabschlüsse erlaubt, die das Erreichen des europäischen Inflationsziels ermöglicht hätten. Wie sollte sich das ausgerechnet in und am Ende der Corona-Krise in sein Gegenteil verkehrt haben?

Gefährliche Inflation schadet den Ärmsten

Großartig ist auch, dass beim Thema Inflation gerade diejenigen die Ärmsten in der Gesellschaft als Leidtragende anführen, die sonst kaum einen Gedanken an sie verschwenden, die sich aber explizit gegen die Einführung eines Mindestlohns gewandt haben und sich selbstverständlich nicht für seine an der aktuellen Inflationsrate orientierte Dynamisierung einsetzen oder das für die Grundsicherung forderten. Denn eine auf diese Weise erreichte Stauchung der Einkommensverteilung wird in diesen Kreisen abgelehnt, meist mit dem Hinweis, dass das leistungsfeindlich sei und insofern schädlich für die wirtschaftliche Entwicklung und damit letzten Endes für die Armen selbst.

Auch nur den Eindruck zu erwecken, Zinserhöhungen würden die Knappheit einzelner Güter beseitigen oder die Spekulation mit Energie, Wohnungen und Lebensmitteln stoppen, ist mehr als fahrlässig. Wirkliche Knappheit kann nur durch Investitionen überwunden werden und die werden von Zinserhöhungen gebremst. Selbst wenn das Geld für Spekulationszwecke teurer würde, wäre es der falsche Weg, auf diese Weise die Spekulation bekämpfen zu wollen statt durch regulierende Eingriffe, die diesen Missbrauch der Marktwirtschaft verhindern. Jetzt einen noch tieferen Einbruch der Ausgaben für Sachinvestitionen zu riskieren, wäre für viele Arbeitnehmer und insbesondere die schwächsten von ihnen existenzbedrohend.

Die Art von Inflation, die für eine sich dynamisch entwickelnde Volkswirtschaft tatsächlich gefährlich werden kann, ist gerade nicht ein Zustand, bei dem die Preise einiger Produkte um zehn oder fünfzehn Prozent höher sind als ein Jahr zuvor. Inflationsdynamik ist ein Prozess, bei dem sich nach einem auslösenden Moment Preise und Löhne immer weiter gegenseitig nach oben treiben, ohne dass die Preissteigerungen mit der Knappheit bestimmter Güter etwas zu tun hätten. Die momentan herrschende erhöhte Inflationsrate spiegelt die Knappheit genau in der Statistik identifizierbarer Güter wider, die nicht langfristig anhalten und schon gar nicht laufend weiter zunehmen wird, wie das Voraussetzung für eine sich ohne Lohndruck verstärkende Inflation wäre. Von einem solchen Szenario kann in Deutschland und Europa in keiner Weise die Rede sein. Käme es aber wirklich zu einem solchen Prozess, wäre es mit Sicherheit der ärmere Teil der Bevölkerung, der von der dann unvermeidlichen Intervention der EZB via steigende Arbeitslosigkeit getroffen würde.

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Ein Gedanke zu „Ein Hoch auf die Europäische Zentralbank“

  1. Eine lesenswerte Analyse, die allerdings nicht die verdiente Resonanz erfährt. Die anfangs hypothetisch gestellte Frage, wie es in Deutschland mit eigener Währung, also einem Fortbestehen der DM, aussähe, kann über Umweg erklärt werden. Die beiden Nationen Schweiz und Japan samt ihrer Währungen CHF und Yen liefern hierzu das Drehbuch. Die Schweiz fährt massive Leistungsüberschüsse und schwächt den CHF mittels Zentralbankinterventionen. So beträgt die Position Devisenanlagen zum 31.12.2020 über 900 Milliarden CHF bei der Schweizerischen Nationalbank. Das BIP der Schweiz entspricht etwa 20% des deutschen BIPs. Es würden sich Devisenanlagen von etwa 5 Billionen DM (der Vereinfachung halber 1 € = 1 DM) in der Bundesbankbilanz finden. Ob die Bundesbank widerspruchslos diese Position aufbauen und kontinuierlich ausbauen könnte, wage ich zu bezweifeln. Der Widerspruch käme vom Ausland, allen voran aus den USA. Und dass die USA nicht zimperlich sind, wenn sie sich in ihren Interessen gestört fühlen, weiß ein jeder. Und so kommen wir zu Japan. Ein Land, welches es in der Vorstellung der Mainstream-Ökonomen gar nicht geben kann. Japan versündigt sich nicht am Ausland und hat Politiker, die die volkswirtschaftliche Saldenmechanik nicht ignorieren. Der japanische Staat begibt sich in die Rolle des Schuldners, was eine Staatsschuldenquote von über 250% des BIPs zur Folge hat. Eine Reduzierung steht nicht zur Debatte, wenn die Privaten Japans und das Ausland keinen Rollenwechsel anstreben. Die verfassungsrechtlich verankerte staatliche Schuldenbremse wäre für Deutschland mit eigener Währung ein Hirngespinst.
    Unser Bundesfinanzminister kann, seit er in Amt und Würden ist, sein treudoofes Publikum nicht mehr mit zu seiner Heldenreise nehmen. Jetzt muss er sich mit der trivialarithmetischen Natur volkswirtschaftlicher Saldenmechanik auseinandersetzen. Teile jenes Publikums wenden sich schon enttäuscht ab vom ehemaligen Wehrdienstverweigerer und Major der Reserve. Undank ist der Welten Lohn.
    Die Äußerungen des neuen Bundesbankpräsidenten zum Thema Inflation ähneln denen seines Vorgängers. Für die Cineasten unter uns heißt das, es ist Murmeltiertag.

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