Haben wir nichts aus früheren Währungskrisen gelernt? Der Fall der türkischen Lira – Teil 2

Wer bezahlt die Zeche für den carry trade mit der türkischen Lira?

Der Blick auf die makroökonomischen Zusammenhänge in der Türkei in Teil 1 dieses Beitrags hat zu Tage gefördert, dass die türkische Lira in Zeitabschnitten von jeweils ein bis zwei Jahren an den Devisenmärkten in einem Maße nachgefragt wurde, das eindeutig im Widerspruch zu den gesamtwirtschaftlichen Gegebenheiten stand. Diese Entwicklung ist nur mit Spekulation zu erklären. Die Phasen massiver Überbewertung der türkischen Währung haben dem Land Schaden zugefügt, weil die realwirtschaftliche Entwicklung aufgrund der verzerrten Preisverhältnisse behindert wurde. Die Spekulanten, die schönfärberisch als „Finanzinvestoren“ bezeichnet werden, haben an diesem System verdient. Wie gut, soll in diesem zweiten Teil abgeschätzt werden. Am Ende geht es um die Frage, wie die Türkei aus der Währungskrise herauskommen könnte.

Die Rendite der carry trades …

Grund für die immer wieder aufflammende Nachfrage nach türkischer Lira war die große, auf der Inflationsdifferenz beruhende Zinsdifferenz zwischen der Türkei und der EWU, die die Spekulanten an den Devisenmärkten, die carry trader, ausnutzten. In Abbildung 1 sind die kurzfristigen Nominalzinsen beider Währungsräume ab 2004 auf Jahresbasis dargestellt (die durchgezogenen Linien) sowie die Änderungsraten der Verbraucherpreisindizes (die gestrichelten Linien). Seit 2014 nehmen die Inflations- und Zinsdifferenzen wieder zu.

Abbildung 1

Das Geschäft eines carry traders funktioniert folgendermaßen. Er verschuldet sich (unter Einsatz möglichst geringen Eigenkapitals) in einem Niedrigzinsland, z.B. im Euroraum, tauscht den auf Euro lautenden Kredit in türkische Lira um, legt das so erhaltene Geld bei türkischen Banken zu den jeweiligen hohen Tagesgeldzinssätzen kurzfristig an, zieht es alle paar Monate wieder ab, tauscht es am Devisenmarkt in Euro um, begleicht seinen niedrig verzinsten Kredit und streicht auf diese Art und Weise die Zinsdifferenz zwischen beiden Währungsräumen ein.

Gehen carry trader geschickt vor, können sie obendrein noch Wechselkursgewinne während der einige Monate anhaltenden Aufwertungsphasen erzielen, indem sie zu Beginn einer solchen Phase in den Markt einsteigen und ihn am Höhepunkt verlassen (vgl. die gelben Pfeile in Abbildung 6 von Teil 1 dieses Beitrags). Doch selbst wenn sie den perfekten Zeitpunkt zum Ein- und Aussteigen in die und aus der türkischen Lira verpassen, können sie dank der enorm hohen Zinsdifferenz Wechselkursverluste bis zu einem gewissen Umfang ausgleichen, bevor sie mit ihren carry trades insgesamt in die Verlustzone geraten.

Das erklärt übrigens, warum der Rückgang des Wechselkurses meist abrupt erfolgt, die Aufwertung hingegen langsamer. Der Ablauf erinnert an das Verhalten einer Schnecke, die sich bei einer Berührung von außen blitzartig in ihr Schneckenhaus zurückzieht und dann eine Weile braucht, bevor sie ihre Fühler wieder tastend ausstreckt. Das Risiko, dass der Wechselkurs einbricht, steigt mit zunehmender Überbewertung der Währung. Sobald daher ein spürbarer Teil der carry trade-Gelder – durch welches Ereignis oder welche Information auch immer angestoßen – aus dem Markt abgezogen wird, folgen diesem Beispiel binnen kürzester Zeit sehr viele weitere Marktteilnehmer. Es kommt zum Platzen der Spekulationsblase. Nach dem kurzfristigen Absturz der Währung dauert es eine Weile, bevor sich die carry trader wieder an das Abschöpfen der Zinsdifferenz in der abgestürzten Währung herantrauen und der nächste, zu den fundamentals in Kontrast stehende Aufwertungszyklus beginnt.

Die Größenordnung der Renditen, die carry trader mit der türkischen Lira erzielen konnten, veranschaulicht Abbildung 2. Die positiven Werte sind mit grünen, die negativen mit roten Säulen dargestellt. Es hat zunächst den Anschein, als ob die Zeitreihe mehr oder weniger zufällig und ungefähr im gleichen Umfang um die Null-Linie oszilliert. Doch der Durchschnitt (die blassblaue Gerade) ergibt über die letzten zwei Jahrzehnte einen Wert von gut 0,3 Prozent.

Abbildung 2

Bei der dargestellten Rendite handelt es sich um monatlich erzielbare Werte. Auf Jahresbasis bezogen (wie beim Vergleich von Renditen üblich) beträgt der Wert demnach das Zwölffache. Im langjährigen Durchschnitt, also unter Berücksichtigung auch aller Verlustphasen, war eine jährliche Rendite von fast 3,7 Prozent zu erzielen, wie gesagt nach Abzug von Kreditzinsen im Niedrigzinsland. Das scheint nicht besonders viel zu sein. Vergleicht man es aber mit der seit Jahren anhaltenden Null- und Negativzinsphase in der EWU, ist es doch eine beachtliche Marge für ein rein spekulatives Engagement, das mit keinerlei Wertschöpfung verbunden ist.

Zudem ist in dieser Rechnung die Möglichkeit, über die Aufnahme von Krediten die Rendite auf das eingesetzte Eigenkapital zu erhöhen (sogenannter Leverage-Effekt), gar nicht berücksichtigt. Das heißt, die tatsächlich von Spekulanten erzielten Renditen bezogen auf ihr eingesetztes Eigenkapital dürften noch weit höher gelegen haben. Denn Banken sind im Euroraum seit der Null- und erst recht der Negativzinspolitik dankbar für jeden Kreditnehmer, dem sie Liquidität zur Verfügung stellen können, so dass es nicht schwer ist, an die nötige Finanzierung für das Hebeln der Eigenkapitalrendite zu gelangen.

Die in der Abbildung gezeigte Rendite spiegelt daher den unteren Rand dessen wider, was mit carry trades über Jahre hinweg in der Türkei zu verdienen gewesen sein dürfte oder, um es deutlich zu sagen, was aus diesem Land herausgesaugt werden konnte. Dieses Ergebnis steht in klarem Widerspruch zur in Teil 1 bereits kritisierten Markteffizienzhypothese. Wenn die nämlich Gültigkeit hätte, könnte mit Devisenspekulation auf Dauer nicht systematisch Geld verdient werden, müsste die über einen so langen Zeitraum ermittelte Durchschnittsrendite daher null sein. Die hier vorgelegte Empirie zeigt aber, dass ein positiver Wert sogar dann erzielbar ist, wenn der Spekulant den Markt nicht minutiös beobachtet und kein glückliches Händchen bei der Wahl der Zeitpunkte hat, zu denen er in den Markt ein- und aussteigt. Er muss gemäß dieser Rechnung nur jeden einzelnen Monat systematisch so vorgehen wie beschrieben und erhält eine positive Rendite auf seine Spekulationsaktivitäten.

… entbehrt jeder ökonomischen Rechtfertigung

Es lässt sich heutzutage also mit ein paar Mausklicks im Spielkasino des Währungshandels vergleichsweise mühelos Geld verdienen. Daher besteht nicht nur für professionelle Finanzanleger sondern eigentlich für jeden intelligenten Menschen ein hoher Anreiz, auf diesem Weg das Einkommen nach Feierabend aufzubessern oder gleich hauptberuflich carry trader zu werden. Dazu passt, dass das Volumen des weltweiten täglichen Devisenhandels in den letzten zwanzig Jahren geradezu explodiert ist. Zwischen 2001 und 2019 hat es sich laut Daten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich mehr als verfünffacht. Und das ist bei weitem nicht mit der allgemeinen Preisentwicklung zu erklären. Denn im gleichen Zeitraum legten die Verbraucherpreise laut IWF im Weltdurchschnitt gerade einmal um knapp 100 Prozent zu.

Durch carry trades entsteht keine Wertschöpfung, aber es fließt Geld an die Spekulanten, mit dem sie anderswo reale Güter einkaufen können: Ein carry trader erwirbt Ansprüche am „Gesamtkuchen“, ohne zu ihm produktiv beigetragen zu haben; vielmehr hat er der Entstehung des „Gesamtkuchens“ sogar geschadet, weil die durch carry trades bewirkten Preisverzerrungen eine effiziente Ressourcennutzung behindern. Da die Finanzwelt über Gebühren und andere Transaktionskosten als Croupiers an diesem Kasino verdient, treten die einschlägigen Interessengruppen mit Nachdruck für einen von Steuern und Regulierung möglichst ungestörten Erhalt dieser Form der Ausbeutung der in der Realwirtschaft Arbeitenden ein.

Folgen der carry trades für Sachinvestoren und Verbraucher

Die Folgen, die carry trades in den von Fehlbewertungen ihrer Währung betroffenen Ländern zeitigen, sind verheerend, nicht nur in der Türkei. Vom jahrelangen türkischen Handels- und Leistungsbilanzdefizit war bereits in Teil 1 dieses Beitrags die Rede. Aber der Außenhandel und die direkt an ihm hängenden Produktionsstrukturen sind nicht der einzige Bereich, den verzerrte Preise treffen. In Abbildung 3 sind den monatlichen Wechselkursdaten die Monatswerte von Inflation und kurzfristigen Zinsen gegenübergestellt. Durch diese präzisere unterjährige Betrachtung wird sichtbar, wie empfindlich die türkische Geldpolitik in den vergangenen Jahren immer wieder auf nominale Abwertungsschübe der Lira reagiert hat und sie durch abrupte Restriktion abzumildern suchte, so etwa in den Jahren 2006, 2011 und 2013/2014. Hohe Zinsen sind aber eine enorme Belastung für jeden inländische Sachinvestor, ganz egal in welchem Sektor er tätig werden will. Die Stabilisierung des Wechselkurses geht daher zulasten der Entwicklung der Realwirtschaft.

Abbildung 3

Auch die Verbraucher haben durch von carry trades ausgelöste Preisverzerrungen Nachteile. Zwar können sie sich in Phasen realer Überbewertung zunächst mehr ausländische Güter leisten als bei einem Wechselkurs, der die tatsächlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten einigermaßen korrekt widerspiegelt. Dass sie aber durch dieses Kaufverhalten die Zukunft ihrer eigenen Arbeitsplätze nach und nach untergraben, wissen die Verbraucher meistens nicht und könnten es auch nicht ändern, selbst wenn sie es wüssten. Ein offenkundiges Problem entsteht für die Konsumenten, sobald die spekulative Blase am Devisenmarkt platzt und die Währung plötzlich an Wert verliert. Darauf reagieren die Verbraucherpreise mit einem Anstieg und zwar in dem Maße, wie sich die Konsumstruktur direkt auf Importgüter und indirekt auf importierte Vorleistungen stützt.

Der Anstieg der Verbraucherpreise fällt umso größer aus, je länger die Phase der realen Überbewertung zuvor angehalten hat. Denn im Laufe der Jahre sind inländische Anbieter mangels Wettbewerbsfähigkeit entweder ganz vom Markt verschwunden oder existieren nur noch mit deutlich reduzierten Marktanteilen bzw. in Nischen. Weggebrochene Produktionsstrukturen lassen sich aber nicht kurzfristig reaktivieren, wenn sich die Wettbewerbsfähigkeit (potenzieller) inländischer Anbieter gegenüber ausländischen Produzenten durch den Wechselkursabsturz schlagartig verbessert. Verbraucher können daher nicht rasch von massiv verteuerten ausländischen Waren auf inländische Substitute umschwenken, sondern müssen zunächst die höheren Preise für Importgüter bezahlen bzw., wenn sie sich diese Güter nicht mehr leisten können, darauf verzichten und sich entsprechend einschränken. Importierte und praktisch nicht ersetzbare Vorleistungen wie etwa bestimmte Rohstoffe treiben bei Entwertung der inländischen Währung die Preise für Endprodukte ohnehin unausweichlich in die Höhe.

Die erheblichen Schwankungen der Inflationsrate, die sich bereits zwischen 2004 und 2018 beobachten lassen, dürften daher neben den „hausgemachten“ Ursachen bei der Lohnentwicklung auch auf die Importpreisentwicklung zurückzuführen sein. In den Monatsdaten von Abbildung 3 werden teilweise spiegelbildliche Bewegungen von Inflationsrate und nominalem Wechselkurs der türkischen Lira zum Euro sichtbar. Es ist daher verständlich, dass die Geldpolitik einem Wechselkursabsturz durch Zinsanhebungen regelmäßig Einhalt zu gebieten versucht hat. Der Preis dafür war wie gesagt das Dämpfen der inländischen Sachinvestitionen bis hin zum Abwürgen der Konjunktur.

Internationale Finanzmärkte – das neoliberale Tribunal

Doch das hat sich nun geändert: Der türkische Präsident will inländische Sachinvestitionen nicht mehr durch Zinserhöhungen erschweren, ganz gleichgültig wie sehr die türkische Lira an den Devisenmärkten an Wert verliert und wie hoch die inländische Inflationsrate ist. Stattdessen übt er Druck auf die türkische Zentralbank aus und hat deren Chefs mehrfach ausgewechselt, um seine geldpolitischen Wünsche von Zinssenkungen ausreichend umgesetzt zu sehen. Im Fernsehsender TRT sagte der Präsident, er sei nicht länger daran interessiert, mit höheren Leitzinsen kurzfristige Investitionen ins Land zu holen. Das ist eine verzweifelte Kampfansage an die internationalen Finanzmärkte und speziell die carry trader. Erdogans Hoffnung ist, die Wirtschaft durch Zinssenkungen anzukurbeln.

Das bisherige Ergebnis: Bei einem Leitzins von aktuell 14 Prozent ist der kurzfristige Realzins aufgrund einer Inflationsrate von momentan gut 21 Prozent auf -7 Prozent gefallen und damit negativer geworden als je zuvor. Ob diese Konstellation die Investitionstätigkeit anregt, darf bezweifelt werden. Der Vertrauensverlust in die türkische Währung hat inzwischen so um sich gegriffen, dass nach den Finanzmarktakteuren nun auch die türkische Bevölkerung selbst die eigene Währung in stabilere Fremdwährungen umzutauschen beginnt, was den Teufelskreis zwischen Wechselkursabsturz und Inflationsanstieg noch befeuert. Produzenten und Händler fangen laut Presseberichten an, Waren zu horten, was zu Versorgungsengpässen, weiteren Preissteigerungen, Verunsicherung bis hin zu Verzweiflung in der Bevölkerung führt – kein ideales Klima für Sachinvestitionen.

Für die internationale Finanzwelt, die jahrelang am carry trade mit der türkischen Lira verdient hat, ist es jetzt ein Leichtes, dem türkischen Präsidenten die Schuld an der Entwicklung in die Schuhe zu schieben mit Verweis auf seine Einmischung in die Geldpolitik. Mit „unorthodoxer Geldtheorie“ und „unkonventioneller Geldpolitik“ wird umschrieben, dass man es für verrückt hält, auf die hohe und steigende Inflation nicht mit Zinssteigerungen zu reagieren, sondern entgegen der Lehrbuchweisheit sogar die Zinsen zu senken, also den Geldhahn auf- statt zuzudrehen. Man ist sich einig, dass die Reaktion auf den Finanzmärkten, dem Land massiv ausländisches Kapital zu entziehen, vorhersehbar war und korrekt und zwangsläufig ist. Wer die Unabhängigkeit der Zentralbank antastet und so das Vertrauen der eigenen Bevölkerung in die Landeswährung verspielt, muss sich über das Urteil der freien Finanzmärkte nicht wundern, so der Pressetenor.

Das Marktdogma als Rückgrat des carry trade

Niemand stellt die Frage, ob die türkische Geldpolitik in den zurückliegenden zwanzig Jahren je „unabhängig“ agieren konnte, nämlich unabhängig von aus realwirtschaftlicher Sicht verrücktspielenden Devisenmärkten, oder ob die Geldpolitik bis vor Kurzem stets brav das getan hat, was von den Kasino-Spielern erwartet wurde, nämlich die Zinsdifferenz zu erhöhen, sobald durch die langfristig unvermeidlichen Abwertungsrunden der ein oder andere carry trader Verluste zu verzeichnen hatte und so die durchschnittliche carry trade-Rendite geschrumpft war.

Diese Frage wird nicht gestellt, weil die Antwort darauf die Mitverantwortung des neoliberalen Mainstreams an der aktuellen Misere ans Tageslicht befördern würde. Denn der hat sich stets für freie Devisenmärkte eingesetzt trotz aller Währungskrisen auf der Welt in den letzten 30 Jahren mit ihren verheerenden Folgen. (Siehe dazu z.B. den im Dezember 2021 erschienenen Rückblick auf die argentinische Krise von Heiner Flassbeck und Patrick Kaczmarczyk.)

Es wird auch nicht gefragt, warum die türkische Inflationsrate jahrelang und weit vor der aktuellen Währungskrise über der der europäischen Währungsunion lag. Die Antwort müsste sich mit den Lohnstückkosten und damit zwangsläufig mit den Löhnen befassen. Sie müsste den Hinweis enthalten, dass Löhne dadurch, dass sie einzelwirtschaftlich irgendwie an irgendwelchen Märkten zustande kommen, nicht automatisch im Aggregat eine Größenordnung annehmen, die dem Erhalt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft dienen; dass deshalb in jedem Land eine Lohnpolitik unerlässlich ist, die Verantwortung für genau diese Aufgabe übernimmt.

Doch das widerspricht dem neoliberalen Gedankengebäude der Mainstream-Ökonomik von „freien“ und „flexiblen“ Märkten dermaßen, dass das Thema Lohnpolitik nicht einmal angesprochen oder gar dezidiert diskutiert wird. Außerdem passt es nicht in ein monetaristisches Weltbild, gemäß dem keine wie auch immer geartete Lohnpolitik für die Inflationsrate zuständig ist, sondern die Geldpolitik. Das einzige, was der überwiegend vertretenen Volkswirtschaftslehre zur aktuellen Lage in der Türkei deshalb einfällt, ist eine Geldpolitik, die restriktiv zu sein, also die Zinsen zu erhöhen hat. Die sich ergebenden realwirtschaftlichen Folgen werden als hinzunehmend eingestuft. Die finanzwirtschaftlichen Folgen, nämlich ein erneuter Anreiz für carry trades, werden ausgeblendet.

Wie kann die Türkei aus der Währungskrise herauskommen?

Das Problem ist, dass es weder der türkische Präsident noch die türkische Zentralbank allein in der Hand haben, den Verfall der Währung kurzfristig zu stoppen, ohne neue carry trades zu provozieren. Denn wenn sie zum Mittel der Zinserhöhung greifen, lockt das die Spekulanten wieder an, die an der Zinsdifferenz zum Euroraum verdienen wollen. Die Presse würde Zinserhöhungen als „Rückkehr zur geldpolitischen Vernunft“ bezeichnen. Zunächst würde sich dadurch ein gewisser Erfolg an den Devisenmärkten einstellen, d.h. der Verfall des Wechselkurses vorläufig enden; vermutlich zum Preis einer dann völlig abgewürgten Sachinvestitionsnachfrage in der Türkei selbst.

Die carry trader würden sich der türkischen Lira wieder vorsichtig zuwenden, und die Mehrheit der Volkswirte sowie die Presse würden das als Zeichen zurückgewonnenen Vertrauens in die türkische Währung interpretieren („Das scheue Reh namens Kapital kehrt in die Türkei zurück.“). Ja sogar ein steigender Wechselkurs würde positiv gedeutet werden, gleichgültig bis zu welchem Grad eine nominale Aufwertung realwirtschaftlich gerechtfertigt und damit vertretbar wäre. Denn aus Mainstream-Sicht finden an Devisenmärkten langfristig keine Fehlbewertungen statt, solange an ihnen tatsächlich frei gehandelt werden kann (Markteffizienzhypothese). Fehler begeht nach dieser Lesart immer nur die Politik mit ihren Eingriffen, die sich gegen die Marktkräfte richten.

Und damit könnte das lukrative Kasino-Spiel im Fall von Zinserhöhungen wieder von vorn beginnen. Nur die türkische Bevölkerung wäre im Schnitt noch ein Stück ärmer und die türkische Volkswirtschaft ein Stück weniger entwickelt, als sie es sein könnte, wenn man dem Spekulationskasino an den Devisenmärkten ein für alle Mal einen haltbaren Riegel vorschöbe.

Erhöht die türkische Geldpolitik die Zinsen jedoch nicht, weil sie den carry trades den Boden entziehen und Sachinvestitionen im Inland fördern will, wird die Inflation kurzfristig weiter steigen. Denn das Vertrauen in die Währung ist bereits verspielt. Ein Teufelskreis. Wie kann die Türkei ihm entkommen? Kann sie es überhaupt aus eigener Kraft schaffen?

Die Antwort lautet: Jein. Der Ja-Teil in dieser Antwort bezieht sich auf folgende Überlegung: Ein Land kann durch eine gesamtwirtschaftlich vernünftige Lohnpolitik (Stichwort goldenen Lohnregel) seine Lohnstückkostenentwicklung auf einem stabil niedrigen Niveau von z.B. zwei Prozent halten. Stimmt diese Rate mit der seiner wichtigsten Handelspartner überein, dürften sich auch die Inflationsraten ähneln. Entsprechend werden die Zinsniveaus zwischen den Handelspartnerländern nicht stark voneinander abweichen. Dadurch besteht grundsätzlich kein hoher Anreiz für carry trades, weshalb der Wechselkurs kaum ins Kreuzfeuer der Spekulanten geraten dürfte.

Hinter dem Nein in der Antwort stecken folgende zwei Gedankengänge: Unterbieten Handelspartnerländer mit ihrer Lohnpolitik ein stabil niedriges Inflationsniveau von z.B. zwei Prozent, ist auf Dauer ein Verlust an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber diesen Ländern vorprogrammiert, wenn das betrachtete Land sich nicht auf den zur Deflation neigenden Kurs mit einlässt (was seiner Binnenwirtschaft schadet) oder eine kontinuierliche Wechselkursabwertung bewerkstelligt (was es nicht ohne weiteres aus eigener Kraft kann.)

Die zweite Überlegung zum Nein lautet: Der Aufbau einer vernünftigen Lohnpolitik gelingt nicht über Nacht. Erdogans Ankündigung, den Mindestlohn Anfang des neuen Jahres um gut 40 Prozent anzuheben, zeigt, wie schwierig es in Zeiten hoher und steigender Inflation ist, die Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen und gleichzeitig für sozialen Ausgleich zu sorgen. Daher dürfte es dauern, das Ziel einer niedrigen und stabilen Preissteigerungsrate von um die zwei Prozent zu erreichen. Solange das nicht gelungen ist, muss die Währung zum Erhalt bzw. zur Wiedergewinnung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit kontinuierlich abwerten. Das macht sie aber automatisch zur Zielscheibe für Spekulanten.

Was also tun? Damit Spekulationen nicht durch sachinvestitionsschädliche Hochzinsen abgewehrt werden müssen, ist das Land auf Unterstützung von außen angewiesen. Denn die Zentralbank kann die eigene Währung vor ungerechtfertigtem Wertverlust nur durch den Verkauf von Devisen schützen. Im Zweifel ist die Menge der Devisen, die der Zentralbank zur Verfügung steht, jedoch begrenzt, vor allem wenn eine Währungskrise beendet und ein Neuanfang gemacht werden soll. Die bekannte Asymmetrie der Wechselkurspolitik einer Zentralbank wird hier deutlich: Eine Aufwertung der eigenen Währung kann eine Zentralbank jederzeit verhindern, weil sie beliebig Geld in eigener Währung schöpfen und damit Fremdwährungen aufkaufen kann. Beim Ankämpfen gegen eine Abwertung ist die Zentralbank hingegen auf Fremdwährung angewiesen, um mit ihr die eigene Währung anzukaufen. Und über Fremdwährung verfügt die Zentralbank wie gesagt nicht beliebig.

Deshalb ist die türkische Zentralbank auf die Zusammenarbeit mit einer großen Zentralbank einer Hartwährungsregion angewiesen, die zur Verteidigung des Wechselkurses bereit ist, naheliegenderweise also mit der EZB. Die ausländische Zentralbank kann die dafür benötigte Hartwährung drucken, weil es ihre eigene ist, und so die zu schützende fremde Währung aufkaufen, um deren Wechselkurs zu stabilisieren. Das setzt voraus, dass sich beide Zentralbanken auf einen Wechselkurs(pfad) einigen, den sie für realwirtschaftlich angemessen halten. Auf diese Weise können carry trader systematisch daran gehindert werden, an der Zinsdifferenz zwischen den Ländern zu verdienen.

Leider sieht es derzeit nicht danach aus, dass die Europäische Zentralbank die Hand zu einer solchen Lösung ausstrecken wird. Die meisten Politiker dürften, selbst wenn sie dem Marktdogma kritisch gegenüberstehen, entweder zu wenig von der Materie verstehen, um eine solche pragmatische Lösung der eigenen Bevölkerung überzeugend erklären zu können. Oder sie scheuen die Auseinandersetzung mit dem neoliberal orientierten Teil der Ökonomen, Politiker und Medien, der kein Interesse daran hat, das Spielkasino der Devisenmärkte zu schließen. Dabei ließen sich mit einem geldpolitischen Kooperationsangebot an die Türkei Forderungen in wichtigen Bereichen wie Menschenrechte, Flüchtlings- und Klimaschutzpolitik verbinden, deren Durchsetzung die zugegebenermaßen heikle Zusammenarbeit mit einem de facto-Diktator rechtfertigen könnten.

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6 Gedanken zu „Haben wir nichts aus früheren Währungskrisen gelernt? Der Fall der türkischen Lira – Teil 2“

  1. Vielen Dank Frau Spiecker für diesen guten Beitrag,
    ich habe einige türkische Bekannte die völlig im Regen stehen, weil als Adressat für die Wut nur Erdogan zur Verfügung steht.
    Bitte schreiben Sie weiter solche Artikel, um Roß und Reiter beim Namen zu nennen.
    Mit freundlichen Grüßen Ralf Schönefeld

  2. Schön, dass es so fundierte Artikel gibt. Ihre Schlussfolgerung verstehe ich aber nicht.
    Wieso würde ein realwirtschaftlich angemessener Wechselkurpfad den carry trade systematisch unterbinden? Bezieht sich jene Wechselkursanpassung nicht auf die Anpassung der Inflationsdifferenzen (Lohnstückkosten), und zielt der carry trade nicht auf die Zinsdifferenzen? Beide Differenzen müssen doch nicht identisch sein, oder? Dann kann auch der carry trade systematisch gewinnbringend bleiben. Und wenn der Wechselkurs sich an den Zinsen ausrichtet, entfernt er sich dann nicht von den außenwirtschaftlich relevanten Lohnstückkostendifferenzen?

    1. Die Zinsdifferenz muss der Inflationsdifferenz nicht jederzeit vollkommen gleich sein. Aber es spricht vieles dafür, dass beide Differenzen nicht stark voneinander abweichen und schon gar nicht über längere Zeiträume. Denn Nominalzinsen haben etwas mit der Höhe der Inflationsrate zu tun, wenn die Geldpolitik mit der Lohnpolitik sinnvoll zusammenarbeitet (was im Fall der Türkei bislang nicht der Fall ist). Aber „sicherer“ gegen carry trades ist natürlich ein ungefährer Gleichklang der Inflationsraten zwischen Handelspartnerländern, weil er ähnliche Zinsniveaus zulässt. Die first-best-Lösung ist, wie im Beitrag beschrieben, nur nicht schnell und leicht zu erreichen. Also muss man sich auf dem Weg dahin mit second-best-Lösungen behelfen, die sozusagen nie ganz „wasserdicht“ sind. Aber allein das Signal, dass es eine internationale Zusammenarbeit gegen carry trades gibt, würde bereits für eine gewisse Abschreckung sorgen. Und das wäre dann schon einmal mehr als nichts.

  3. Vielen Dank, Fr. Spiecker fuer die interessante Analyse.

    In der Abb.2 carry trades in TL wuerde mich interessieren, ob die Kosten beruecksichtigt sind? Wenn ja, welche genau?
    zB Vertriebskosten, Handelssystemkosten, Kreditausfallversicherungskosten, Risikobudget-Rueckstellungen, Trading(Spread)kosten, etc
    Mir scheint, die sind in der Darstellung aussen vor (leider fehlt der Link zur Eurostat Quelle)?
    Die 3,6% p.a. Differenz scheinen mir sehr nahe an dem Aggregat der durschschnittlichen Kosten fuer carry trades? Insgesamt sind carry trades vermutlich nach Kosten ein Nullsummenspiel. Mal gewinnt man, mal verliert man.
    Wenn es nicht so waere, waere es ein Perpetuum mobile des Gelddruckens. Das kann es a la long nicht geben?!

    Was halten Sie von anderen Erklaerungsmoeglichkeiten, fuer eine strukturell niedrigere Produktivitaet in weniger entwickelten Laendern?
    – stuktureller Brain-Drain (die Schlausten und Besten tendieren dazu, sich in die freisten und schoensten Laender zu begeben)?
    – fehlende Rechtssicherheit und Korruption (wer staatlich-toleriert betrogen wurde, hat keinen Anreiz mehr zur Hoechstleistung)?
    – kulturelle Unterschiede (Vorsorge-Prinzip/Konsum-Aufschub in noerdlicher Hemisphaere; weniger noetig und nicht evolutionaer ausgepraegt in Warm-Klima-Kulturen)?
    – religioese Unterschiede (verinnerlichte kismet(qismah), inshallah Prinzipien: weniger Eigenverantwortlichkeit/Aenderungsantrieb sondern Sich-Fuegen gemaess des eigenen Gottesbildes)?
    – ethnische Unterschiede (erbliche Komponente an durchschnittlicher Intelligenz, vgl. G. Heinsohn)?
    – was noch?
    – welcher Faktor hat wieviel Anteile? (zu komplex)

    LG Joerg

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