Haben wir nichts aus früheren Währungskrisen gelernt? Der Fall der türkischen Lira – Teil 1

Seit Wochen, ja Monaten kennt der Wechselkurs der türkischen Lira gegenüber dem Euro und den anderen Währungen der wichtigsten türkischen Handelspartnerländer nur eine Richtung: nach unten und zwar steil. Zugleich steigt die Inflation der Verbraucherpreise in der Türkei, auch verursacht durch die wechselkursbedingte Steigerung der Importpreise, auf über 20 Prozent – eine Größenordnung, die schon einmal 2019 aufgetreten war und davor 15 Jahre lang nicht. Die türkische Bevölkerung leidet schwer unter den monetären Verwerfungen, so dass der politische Druck auf den türkischen Präsidenten wächst. Dessen Eingreifen in die Zinspolitik der Zentralbank seines Landes zugunsten von Zinssenkungen gilt gemeinhin als Ursache oder zumindest Beschleuniger der aktuellen Talfahrt am Devisenmarkt.

Die schwere Wirtschaftskrise, in der sich die Türkei mit ihren über 80 Millionen Einwohnern derzeit befindet, kann und darf Europa nicht als vermeintlich unbeteiligter Zaungast lediglich passiv mitverfolgen. Stattdessen muss sich Europa für die Stabilisierung dieses Landes einsetzen, das direkt vor seiner Haustüre liegt und mit dem es in vielfältigen Beziehungen steht, nicht zuletzt hinsichtlich der über drei Millionen Flüchtlinge, die die Türkei beherbergt. Das verlangt nicht nur die politische Vernunft, es ist auch praktisch durchaus möglich. Vor allem aber ist es moralisch geboten, weil das westliche Wirtschaftssystem und die erstarrten wirtschaftspolitischen Denkmuster, aus denen es sich speist, wesentlich zur aktuellen Situation in der Türkei beigetragen haben.

Ein Blick zurück auf die jüngere türkische Wirtschaftsgeschichte

Um die Zusammenhänge zu verstehen, muss man sich den längerfristigen Hintergrund ansehen, vor dem sich das aktuelle Drama abspielt. Denn Währungskrisen entstehen in der Regel nicht über Nacht, vielmehr reichen ihre tieferen Ursachen meist weit zurück.

Jahrzehntelang erfolgreiches Aufholen der Türkei

Eigentlich blickt die Türkei ausweislich der Entwicklung ihrer Wirtschaftskraft auf eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte zurück. In Abbildung 1 ist das jährliche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung (gemessen in konstanten internationalen Kaufkraftparitäten-Dollar) von 1980 bis heute für vier verschiedene Länder dargestellt: die USA, Deutschland, Bulgarien und die Türkei.

Abbildung 1

Es zeigt sich, dass die Türkei in den vergangenen 40 Jahren die kräftigste reale Entwicklung unter den genannten Ländern aufzuweisen hat. Sie steigerte ihr relatives Wohlstandsniveau gegenüber Deutschland von weniger als einem Drittel Anfang der 1980er Jahre auf inzwischen weit mehr als die Hälfte, wobei ja auch in Deutschland die durchschnittliche Wirtschaftskraft absolut zulegte, wenn auch etwas schwächer als in den USA. Bulgariens Bilanz fällt im Vergleich zur Türkei nicht so positiv aus: In Relation zu Deutschland ist der Wohlstand pro Kopf dort sogar gesunken, nämlich von 47 Prozent 1980 auf 44 Prozent heute. Und das, obwohl Bulgarien im Gegensatz zur Türkei seit 2007 Mitglied der EU ist.

Berücksichtigt man die entgegengesetzte demographische Entwicklung Bulgariens und der Türkei, wird die Aufbauleistung des Landes am Bosporus überdeutlich. Denn die Einwohnerzahl der Türkei hat sich seit den 1980er Jahren fast verdoppelt (+ 90 Prozent), seit 2007 ist sie um ein Fünftel gestiegen. Hingegen ist die Bevölkerung Bulgariens seit 1980 um ein gutes Fünftel geschrumpft, seit dem EU-Beitritt des Landes 2007 nahm sie um immerhin noch gut 8 Prozent ab.

Doch war die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Türkei keine kontinuierliche, sondern von großen Schwankungen der realen Wachstumsraten gekennzeichnet (vgl. Abbildung 2). Die EU bzw. die EWU hat im Gegensatz dazu eine zwar im Durchschnitt deutlich schwächere, aber insgesamt gleichmäßigere Entwicklung durchlaufen – von der aktuellen Corona-Krise abgesehen.

Abbildung 2

Das Hin und Her in der türkischen Wirtschaftsentwicklung, das man auch als Boom-Bust-Ökonomie bezeichnet, dürfte das Land insgesamt Wachstum gekostet haben. Denn für den Aufbau eines leistungsfähigen Kapitalstocks zur Steigerung der Produktivität einer Volkswirtschaft ist eine gleichmäßig positiv verlaufende Aufwärtsbewegung der Gesamtwirtschaft förderlicher: Die Planbarkeit privater Investitionen wird bei im Zeitablauf nicht stark schwankender Auslastung der vorhandenen Kapazitäten erleichtert und beschleunigt den Aufholprozess, wohingegen ein holpriges Auf und Ab private Sachinvestitionen dämpft.

Die monetäre Stabilisierung der Türkei – Abbruch einer Erfolgsgeschichte

Parallel zu den realwirtschaftlichen Schwankungen und mit ihnen ursächlich verbunden lässt sich eine große monetäre Instabilität der Türkei über mehrere Jahrzehnte beobachten. In Abbildung 3 ist die Veränderungsrate der türkischen Verbraucherpreise wiedergegeben. Bis Anfang der 2000er Jahre kämpfte das Land mit jahresdurchschnittlichen Hyperinflationsraten zwischen 30 und 110 Prozent. (Die in der Abbildung ebenfalls verzeichneten Werte für die EU beruhen auf Rückrechnungen, die der IWF für den heutigen Kreis der 27 EU-Mitgliedstaaten vorgenommen hat. Auf diese Weise kommt es in den Jahren rund um den Fall des Eisernen Vorhangs für diese Ländergruppe zu hohen Inflationsraten, die für den tatsächlichen Kreis der damaligen Staaten, die die Europäische Gemeinschaft (EG) bildeten, nicht kennzeichnend waren.)

Abbildung 3

Deutlich wird, dass es über viele Jahre eine enorme und stark schwankende Inflationsdifferenz zwischen der Türkei und ihren europäischen Nachbarn gab. Die Annäherung der Türkei an Europa in Sachen monetäre Stabilität gelang in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre bis 2004 in großen Schritten. Seither aber ist sie mehr oder weniger ins Stocken geraten und hat sich mittlerweile in ihr Gegenteil verkehrt: Der Abstand der Inflationsraten beginnt seit seinem Minimum 2011 (unter 4 Prozentpunkte) wieder zu steigen auf inzwischen schätzungsweise 15 Prozentpunkte.

Auf der Suche nach den Ursachen dafür hilft die Empirie zu den beiden makroökonomischen Größen weiter, von denen die Inflationsrate eines Landes auf Dauer im Wesentlichen bestimmt wird (vgl. Abbildung 4). Es geht zum einen um die Veränderungsrate der gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten (in der Abbildung die gestrichelte Linie), die langfristig die Entwicklung des Preisniveaus einer Volkswirtschaft antreibt. Denn letzten Endes beruhen die Kosten aller Produktionsvorgänge in einer Volkswirtschaft auf den Löhnen im Verhältnis zur Produktivität (mit Ausnahme der importierten Vorleistungen) und schlagen sich bei genügend Wettbewerb in den Preisen nieder. Zum anderen spielt die Zinspolitik der Zentralbank eine wesentliche, wenn auch indirekte Rolle bei der Preisniveauentwicklung. Denn sie beeinflusst die Investitionstätigkeit und auf diesem Wege sowohl die Gesamtnachfrage mit allen Folgen für die Lage am Arbeitsmarkt als auch den Umfang des Kapitalstocks und damit die Produktivität. Hier wird die Geldpolitik anhand des Tagesgeldzinssatzes nachgezeichnet. (Daten zu diesen beiden Zeitreihen existieren erst ab den 1990er Jahren.)

Abbildung 4

Es soll nicht die Henne-Ei-Frage diskutiert werden, ob die monetäre Stabilisierung bis 2004 durch eine stark restriktive Zinspolitik erzwungen wurde, so dass die hohen Veränderungsraten der Lohnstückkosten via Abwürgen der Konjunktur zurückgingen, oder ob das (worauf auch immer beruhende) Absinken der Lohnstückkostenrate die Geldpolitik zu einer Reduktion der Zinsen bewog. Eine Gegenüberstellung von Zinsentwicklung und realen Wachstumsraten (vgl. Abbildung 5) zeigt jedenfalls, dass starke Zinsanhebungen von Wachstumseinbrüchen oder zumindest einer Verringerung der Wachstumsraten begleitet waren. Das heißt, die monetäre Stabilisierung war nicht kostenlos zu haben, auch wenn sie notwendig und langfristig förderlich war. Ob sie nicht durch eine von vornherein ausgewogene(re) Lohnpolitik hätte erreicht werden können und müssen, ist im Nachhinein schwer zu beurteilen.

Abbildung 5

Wichtig für das Verständnis des aktuellen Währungsverfalls ist die Tatsache, dass die Zuwachsrate der Lohnstückkosten das Minimum, das sie im Jahr 2005 mit ungefähr 2 Prozent erreicht hatte, in den folgenden Jahren kein einziges Mal mehr zustande brachte, sondern sich von dieser Benchmark wieder deutlich entfernte (vgl. nochmals Abbildung 4). Noch dazu fand die Abkehr von dieser Lohnentwicklung in einer Zeit statt, als die EWU – hauptsächlich aufgrund des deutschen Lohndumpings – ihrerseits hinter eben dieser von ihr selbst präferierten Benchmark jahrelang fast durchgehend zurückblieb.

An den Devisenmärkten wird spekuliert …

Infolgedessen bestand an den Devisenmärkten in der Tendenz Druck auf die türkische Lira. Doch entwickelte sich ihr nominaler Wechselkurs gegenüber dem Euro keineswegs kontinuierlich nach unten. Im Gegenteil: Betrachtet man die durchschnittlichen Monatswerte anstelle der Jahresdurchschnitte, ergibt sich ein aufschlussreiches Bild (vgl. Abbildung 6):

Abbildung 6

Der nominale Wechselkurs fällt in Wellenbewegungen, die eine Art Muster erkennen lassen: Die Phasen der nominalen Aufwertung ziehen sich einige Monate hin; auf sie folgt ein mehr oder weniger abrupter Einbruch des Kurses auf ein niedrigeres Niveau als am Ausgangspunkt der Aufwertungsphase (die roten Pfeile in der Abbildung zeigen an, ab wann das Ausgangsniveau eines Aufwertungszyklus unterschritten wird). So ergibt sich über längere Zeitabschnitte gesehen zwar ein deutlich fallender Trend, es liegt aber keine durchgehend stetige Abwärtsentwicklung vor.

Welchen realwirtschaftlichen Grund sollte es geben, dass die Währung eines Landes kurzfristig entgegen ihrem langfristigen Trend nominal aufwertet, wenn in dem Land permanent eine im Vergleich zu den wichtigsten Handelspartnerländern deutlich höhere Inflationsrate herrscht? Zieht man die Salden der türkischen Handels- und Leistungsbilanz heran, wird deutlich, dass die kurzfristig immer wieder steigende Nachfrage nach türkischer Lira nicht vom realwirtschaftlichen Handel mit Gütern und Dienstleistungen getrieben sein kann (vgl. Abbildung 7). Denn ein Land, das über Jahre hinweg Schulden zwischen 4 und mehr als 8 Prozent seiner Wirtschaftskraft im Ausland anhäuft, benötigt für deren Finanzierung auf ausländische Währungen lautende Kredite; oder es gibt dafür möglicherweise vorhandene Devisenbestände ab. Türkische Lira sind also in Hinblick auf diese Geschäfte im Überschuss vorhanden. Das müsste den nominalen Wechselkurs jederzeit und durchgehend drücken.

Abbildung 7

Da das kurzfristig aber, wie Abbildung 6 belegt, nicht der Fall ist, gibt es nur eine logische Erklärung für die jahrelange Wellenbewegung des Wechselkurses der türkischen Lira: Die Nachfrage nach der türkischen Währung wurde wesentlich stärker von dem Teil des Devisenhandels bestimmt, der die Währung selbst als Ware zum Gegenstand hat, und wesentlich weniger von dem Teil, der die Währung für Transaktionen zur Abwicklung realwirtschaftlicher Geschäfte benötigt. Der sogenannte Forex-Handel, also der Handel mit foreign exchange (= Devisen), dominierte das Geschehen am Devisenmarkt. Das heißt nichts anderes, als dass die türkische Lira ein Spekulationsobjekt für carry trader war. Anders als die Vertreter der Markteffizienzhypothese und insbesondere die Befürworter freier Devisenmärkte behaupten, spiegelt der Wechselkurs deshalb keineswegs jederzeit oder auch nur mittelfristig die realwirtschaftlichen Gegebenheiten, die „fundamentals“, wider.

… zum Schaden der Realwirtschaft

Das lässt sich auch klar am realen effektiven Wechselkurs der türkischen Lira, der dritten in Abbildung 7 dargestellten Zeitreihe, erkennen. Zwischen 2004 und 2010 wertete die Lira real in Wellen um ein Viertel ihres Wertes auf. In dieser Zeit verlor die türkische Wirtschaft entsprechend stark an Wettbewerbsfähigkeit und die Salden von Handels- und Leistungsbilanz fielen extrem ab. Die Verbesserung des Saldos der Handelsbilanz im Jahr der Finanzkrise (2009) auf einen Wert von Null beruhte nicht auf einer Zunahme der Exporttätigkeit des Landes, sondern auf einem krisenbedingten Rückgang der Importe um 23 Prozent, der fast doppelt so hoch ausfiel wie der der Exporte (minus 12 Prozent). (Im gleichen Jahr weist die Zeitreihe der Leistungsbilanz eine Lücke auf.)

Als in den Jahren nach 2010 eine reale Abwertung einsetzte, wurden die Defizite von Handels- und Leistungsbilanz deutlich kleiner. Es dauerte allerdings bis 2017, bis der reale effektive Wechselkurs der türkischen Lira wieder sein langfristiges Durchschnittsniveau erreichte. Seither unterschreitet er es kräftig, und die Salden von Handels- und Leistungsbilanz stiegen im Jahr 2019 erstmals seit 17 Jahren wieder auf einen positiven Wert. Dass die Salden trotz anhaltender realer Abwertung im Jahr 2020 erneut deutlich ins Minus rutschten, dürfte in erster Linie der Corona-Krise geschuldet sein, die die türkische Tourismusbranche schwer traf, die einen wesentlichen Teil ihrer Einnahmen mit ausländischen Gästen verdient.

Lesen Sie in Teil 2 dieses Beitrags, wie ertragreich die Spekulation mit der türkischen Währung war und welche Möglichkeiten es für die Türkei gibt, aus der Währungskrise herauszukommen.


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